Baukunst in Baden
  Heidelberg '1'
 

 

Dies ist die Geschichte eines Scheiterns, ganz zweifellos die eines Scheiterns! Soviel steht vorab fest. Am Ende mag vieles beschrieben, jedoch nicht mehr getan sein als das Nachzeichnen der Stadtgestalt, der ansehnlichsten Gebäude, deren Heidelberg genug besitzt. Das wahre Heidelberg jedoch, dessen größtes Geheimnis die Stimmung, die sich vermittelnden Gefühle, das lässt sich mit Worten kaum fassen. Viele haben es schon unternommen, die Schönheit der Stadt zu verkünden, sogar zu besingen. Wie beeindruckend manch Versuch aber auch vorgedrungen, steht man schließlich selbst in der "Weltinkunabel der Romantik", so erscheinen selbst diese höchsten Worte nicht mehr als ein schemenhafter Abglanz, auf die Kraft der Stadt wohl hindeutend, keineswegs sie aber fassend. Wie man als ein Unbekannter ohnehin geneigt selbst jene Worte für übertrieben zu nehmen; solange bis man mit eigenen Augen, mit eigenen Gefühlen gesehen.
     Und freilich wagt sich in diesem Falle kein Dichter ans Werk! Ja, man muss sagen, dass er sich überhaupt nicht heranwagen würde, wäre Heidelberg nicht eine Stadt in Baden, die in seinen "Wanderungen" eben auch beschrieben sein muss! Wie blass muss also diese Beschreibung werden! Und wen der Weltruhm dieser Stadt nicht anzieht, den wird dieses Nachzeichnen erst recht nicht auf die Sprünge helfen. Heidelberg ist eine Stadt, die zeigt wie schön die Welt sein könnte …
     Markgraf Carl Friedrich konnte keinesfalls wissen, welche Wohltat er Baden durch Heidelberg einverleibte; 1803, als der zunächst treue Diener Napoleons mit der rechtsrheinischen Kurpfalz belohnt. Obgleich er die Stadt natürlich schätzte und die einst europaweit bekannte Universität aus ihrem Schlaf zu neuem bedeutenden Leben weckte. Alsbald blühte Baden zum Großherzogtum weiter, erhielt weitere große Gebiete, den Breisgau, das Bodensee-Gebiet — und Heidelberg war von allem Anfang an eine wichtige Stadt im stark vergrößerten Baden. Ja, man muss auch darauf hinweisen, dass Heidelberg zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine schönere Stadt als die heutige!
     Aber das, wofür Heidelberg heute weltbekannt, das war schlicht noch nicht erfunden, beziehungsweise gerade erst am Entstehen: die Romantik. 1720 hatte die bis dato deutschlandweit wichtige Stadt einen sehr herben Schlag zu verkraften, als nämlich das nahe Mannheim die neue Hauptstadt der einflussreichen, kaiserwählenden Kurpfalz. Kraftvoll, im Stile einer wichtigen Capitale war sie ab 1693 wiedererstanden, nachdem die Truppen des "Sonnenkönigs" auch Heidelberg nahezu vollständig zerstört hatten. Ab 1720 aber, mit dem Verlust der alten Bedeutung, sank sie in einen Märchenschlaf. Nicht, dass man sie ganz vergessen hätte. Aber das Leben der belangreichen Kurpfalz, das pulsierte jetzt in Mannheim, am Musenhof Carl Theodors, sommers gerne auch in einem der größten Schlossgärten Europas: Schwetzingen. In Heidelberg ging es fortan ein wenig gemächlicher zu. Und das Schicksal schien diesen Gang zu bestätigen, als nämlich 1764 ein Blitz in das große, die Stadt krönende Schloss fuhr und einen bösen Brand entfachte, der gleichsam das französische Zerstörungswerk von 1693 vollendete.

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Vielleicht aber fanden die Heidelberger auch Geschmack an der neuen Gemächlichkeit, der Ruhe der Verhältnisse. Trefflich leben ließ es sich am Übertritt des Neckartales in die Rheinebene, in der tiefen Senke zwischen Heiligenberg und Königstuhl; trefflich leben ließ es sich auch ohne "groß" zu sein. Ja, sie müssen einfach Geschmack gefunden haben an der neuen Situation — denn die Gemächlichkeit war nicht wirklich ein Eingeschlafensein, vielmehr nämlich ein Verträumtes. Mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert entstand hier ein ganz neuer, ein ganz eigentümlicher Organismus. Auf ihn traf auch Markgraf Carl Friedrich.
     Vor allem aber traf der neue Zeitgeist auf diesen merkwürdigen Organismus. Noch im 18. Jahrhundert begann sich eine neue Bewegung zu etablieren, zumeist vielleicht durch das Wirken des Genfer Philosophen Rousseau und seinen Ruf "Zurück zur Natur!". Goethe hörte, schrieb seinen alsbald europabekannten "Werther". Ein romantisches Lebensgefühl brach sich mehr und mehr bahn, als entschiedener Gegenentwurf mehr beflügelt als gestört durch das Töten auf den europäischen Schlachtfeldern Napoleons.
     Und irgendwann musste diese aufblühende Geisteshaltung auch auf Heidelberg treffen. Und da staunte man nicht schlecht über diesen Organismus, der gleichsam die urbane Verkörperung dieses Lebensgefühls. Dass die Stadt ihre alte Bedeutung längst verloren, ihr politisches Format, gereichte ihr mit einem Male sogar zum Vorteil! Ja, ohne Fürst und Hochadel, ohne Hof und Bürokratie, ließ es sich nämlich viel ungestörter genießen und träumen. Der hohe Begriff der Freiheit, der hätte sich an einem riesigen Residenzschloss wie in Mannheim oder Karlsruhe gestört; an der Realität, und das waren die einengenden Unbilden der Politik, dort nur allzu plastisch vor Augen geführt. Statt dessen blickte man in den neu entstehenden Villen am Nordufer des Neckars auf die weitläufige wie großartige Schlossruine, ihr mittelalterliches Bild des Verfalls. Da wurde dann einerseits vom Mittelalter geschwärmt, obgleich die ja keineswegs fürstenlos, und andererseits von Freiheit geträumt. Die Romantik konnte ganz gut mit Widersprüchen … das Gefühl ward gefeiert, die Vernunft der nun ausklingenden Aufklärung, die Vernunft, die ja zuständig für solche Ungereimtheiten, mehr und mehr "auf die Plätze" verweisend. So fand denn auch Hegel genug Rügenswertes, zu wenig Gefühl an Kant. Ein Generationenwechsel und auch der Wechsel in eine neue Epoche, die Epoche der Romantik.
     Und als diese Epoche dann auf Heidelberg wallte, da erkor sie sich die alte kurpfälzische Capitale wiederum zu einer Hauptstadt, zur Hauptstadt jener neuen Lebensart. Das war eine ideelle Bedeutung, eine Bedeutung mehr für die Eingeweihten. Wer als einfacher Bürger um seine Existenz kämpfte, der hatte für solche "Trends" nichts übrig, ja bekam sie nicht einmal mit.

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Die neue Zeit kürte Heidelberg zur deutschen Hauptstadt der Romantik. Goethe, Hegel, Hölderlin, Eichendorff, Heine, Robert Schuhmann, Karl Julius Weber fanden sich ein. Das war schon etwas! Alleine daraus konnte nicht gefolgert werden, wie die Zukunft diesen Ruhm dann vollenden würde. Nein, Markgraf Carl Friedrich und mit ihm Baden durften sich am schönen, am durch den Zeitgeist immer romantischeren Heidelberg wohl erfreuen, dass mit der Stadt aber nicht weniger als die badische Perle schlechthin gewonnen, das musste noch verborgen bleiben. Und wer Heidelberg noch nicht kennengelernt, der wird schon das folgende für übertrieben halten: die Welt kürt Heidelberg zur badischen Perle! Freilich auch die extraordinäre Schönheit, denn ganz unangefochten ist Heidelberg die Königin unter Badens Städten. Ohne die Welt aber wäre Heidelberg "nur" die schönste badische Stadt — weil aber die Welt sprichwörtlich zu Gast in Heidelberg, täglich!, so macht sie Heidelberg zu einem Ereignis, das für das kleine Baden gleich mehrere Nummern zu groß!
     Ja, nehme man alle anderweitige Schönheit der badischen Orte ruhig zusammen und setze ganz oben hin das Freiburger Münster, so ist — vor allem dank des Münsters — alles andere gerade soviel wert wie Heidelberg selbst. Und das liegt keineswegs an sonstiger Ärmlichkeit, sondern an der gewaltigen Anmut Heidelbergs, die durch die gastierende Welt zu einer Bedeutung getragen, dass weltweit wohl noch genug gleichwertiges, nur weniges aber, das wirklich übertrifft. Zu solchem Ruhme hat die Touristenschar der letzten Jahrzehnte Heidelberg getragen, dass die relativ kleine Stadt überall auf der Welt bekannt!
     Das war dann die Vollendung der Entwicklung, wie sie im frühen 19. Jahrhundert ihren Anfang nahm. Aus der Hauptstadt der Romantik, die die "Insider", die Begeisterten und manch Begüterten herbeirief, ward im Laufe der nächsten zwei Jahrhunderte mehr und mehr eine Stadt der Touristen. Von Touristen aber, die wohl angelockt von der reizvollsten Schlossruine der Welt, aber zumeist wie die Entdecker des frühen 19. Jahrhunderts von der Romantik der Stadt. Das besuchende Klientel hat sich qualitativ und quantitativ (sehr) verändert, der Grund des Besuches aber überhaupt nicht. So ist es also wiederum eine Zeiterscheinung, der Massentourismus ab den 1950ern, der Heidelbergs Ruf vollendet hat. Wer durch den Schlossgarten geht und nicht mindestens drei verschiedene Nationalitäten antrifft, der gehört zu den größten Romantikern überhaupt, sich das Schloss bei einem schon mehrere Stunden wütenden Unwetter zu Gemüte führend! Für gewöhnlich aber vermeint man sich vor der Schlossruine wie vor dem soeben eingestürzten Turm zu Babel, umwimmelt von verschiedensten Sprachen und Dialekten. Kaum ein Tag vergeht, an welchem nicht Menschen aus mindestens drei Kontinenten verblüfft vor dem zerklüfteten Rotsandstein der Schlossmauern. Welch’ Ruhm für das kleine Baden!

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Zumeist weiß man nicht so recht zu schätzen, was einem direkt vor der Haustüre. Und im kleinen Baden steht halt gleich alles direkt vor der Haustüre. Und da mag man viel lieber in ferne Lande schweifen, ohne zu gewahren, dass die fernen Lande in Heidelberg zu Gast! Nirgendwo gilt der Prophet weniger als in seiner Heimat, das lehrte schon Jesus von Nazareth — und ließ es eben in Nazareth schnell sein mit dem Predigen und Heilen. Wenn man irgendwo den Begriff für Heidelberg wecken muss, dann nicht etwa im fernen Japan oder in den USA, sondern in Baden selbst! Aber wer glaubt schon, dass das Gute so nah? Die Touristenströme, mögen sie aufwecken!
     Kaum ein Gutes ohne Kehrseite, das lehrt die Lebenserfahrung. Und das lehrt denn lustigerweise auch Heidelberg. Denn was das Ansehen Heidelbergs einst begründete, die Beschaulichkeit und Ruhe der Verhältnisse, das ward durch die Vollendung des Ruhmes genauso vollendet aufgehoben! Ja, man darf sogar spekulieren, dass die begründenden Geister des frühen 19. Jahrhunderts heute sofort das Weite suchen würden! Mit der Gemächlichkeit ward nämlich überdies die Exklusivität des Vergnügens zu den Akten gelegt. Ein zwiefaches, das der initiierenden Stimmung abträglich gewesen wäre! Würde man also die Verhältnisse des frühen 21. Jahrhunderts via Zeitsprung ins frühe 19. übertragen, es käme zu einer Selbstauflösung, gleichsam zu einer temporalen Paradoxie!
     Ein kurzer Blick in den Schlosspark, oder noch besser ein kurzes Eintauchen in den Menschenstrom der langen Hauptstraße, führt drastisch vor Augen, dass Beschaulichkeit nur noch Erinnerung an weit zurückliegende Vergangenheit. Aber ist es damit auch mit der Romantik vorbei? Möglicherweise für den Ungeübten, den noch nicht Erfahrenen. Denn, wie oft gehen andernorts Romantik und Beschaulichkeit Hand in Hand?! Häufig genug um vom Heidelberger Gewimmel zunächst überfordert zu werden. Und freilich kann man sich wie bei jedem anderen Ding einfach verweigern, dehnbar genug ist des Menschen Verstand ohnehin. Lässt man sich aber darauf ein, so wiederum lässt spätestens der über der Stadt thronende Prospekt der wunderbarsten Schlossruine der Welt, ein Prospekt, der obendrein umschlossen von der Schönheit der Natur, keinen anderen Schluss zu: freilich begreift man hier Romantik! Nur dass diese Romantik nicht die des einsamen Wandersmannes, sondern ein allgemeines Erlebnis.
     Lässt man zu, so taucht man nicht nur in ein steingehauenes Bild der Romantik ein, man taucht auch in eine Menge ein, mit welcher man das Erleben dieses Bildes teilt. Eine gewaltige Rückversicherung für das einzelne Glied, ja und aus der Ferne grüßt die mystische Erfahrung. Man stößt hier keineswegs in eine x-beliebige Großstadt-Menschenmenge, sondern trifft auf eine Versammlung, die auf verschiedenste Weise ein und dasselbe im Sinn: den Genuss von urbanem Raum — von urbanem Raum, der durch Baukunst und freilich die einfassende Landschaft nicht edler zu denken. Und darüber wüsste man sich eine harmonischere Verbindung von Mensch und Stadt nicht auszumalen. Nirgendwo erscheint die Zusammenschau Mensch-Stadt natürlicher als hier. Und hält man sich nochmal die gerade sommers so große Menschenmenge vor Augen, so wähnt man sich in einem lebendigen Organismus, dessen Adern die Straßen und Gassen, dessen Lebenssaft der Strom der Menschen.

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Und freilich hat man nun zu erwägen, dass die Touristenschar, so groß sie auch sein mag, nur einen kleinen Teil ausmacht, dass noch zahlreiche Bürger in der Altstadt ihr Heim haben, die Hauptstraße eine Aneinanderreihung von Geschäften, dass also auch noch genügend Arbeitsplätze hier notwendig, ja endlich die Vielzahl der Studenten, die sich den Weg zu den Hörsälen bahnt. Bedenkt man also, dass Heidelberg nur zu seinem geringeren Anteil Touristenstadt ("Touristenkaff" wie einmal ein Chef von mir despektierlich ausrief, und dem ich dafür beinahe "eine gescheuert" hätte), wie also Heidelberg tatsächlich vor allem "Gebrauchsstadt" — ja wie kommt man dann zu dem Eindruck eines "allgemeinen Stadt-Genusses"?
     Ganz einfach! Weil es tatsächlich so wirkt! Und das ist das Geheimnis der Stadt — ihre Stimmung! Das ist keine mürrische Bürowelt mit sauberen Straßen, die irgendwo dazwischen mit Sehenswürdigkeiten; wo man sofort zwischen Tourist und Alltägler unterscheiden kann. Das ist der Organismus, der im 18. Jahrhundert unter wichtigen mittelalterlichen Artefakten neu entstand, und der im frühen 19. Jahrhundert ja nicht ohne Grund zur deutschen Hauptstadt der Romantik aufstieg. Der damalige Zeitgeist ward verblüfft genug von der Aura dieses Organismus‘, von der Eigentümlichkeit der Atmosphäre. Eine ganz spezielle Wirkung geht von diesem Stadt-Natur-Gebilde aus, seinerzeit und heute! Und was man schlechterdings so schwer in Worte fassen kann, das empfindet der Unvoreingenommene sofort, wenn er die Altstadt betritt. Das ist das Geheimnis von Heidelberg, die Stimmung, eine romantische Aura, deren Ungekünsteltheit und Natürlichkeit sich darin offenbart, dass sie den Menschen, gleich ob hier beheimatet oder nicht, so harmonisch aufnimmt. Das Geheimnis, wer kann sein Zustandekommen lüften? Dieser Autor sicher auch nicht. Aber nachzeichnen kann er, oder besser: muss er; eingedenk der selbst gestellten Aufgabe.

Die große Schönheit von Heidelberg, der anmutigsten Stadt in Baden und eine der sehenswertesten ganz Deutschlands, sie wurzelt in gleich drei Trümpfen. Jeder dieser drei besitzt schon für sich alleine bedeutenden Wert: 1) landschaftliche Einbettung, 2) die weitläufige Schlossruine zu Häupten der Stadt, 3) die barocke Altstadt selbst. Gehen wir den drei Trümpfen einzeln nach.
     Auch die einfassende Landschaft, als erster Trumpf,  weiß ihrerseits um einen dreifachen Vorzug: Gebirge, Fluss und Ebene. Bedenkenswert, denn wie wenige Städte Deutschlands wissen um diese Anzahl von Veredelungen. Man weiß von vorteilhafter Flusslage, von Städten, deren Horizont reizvolles Gebirge, oder die einst majestätisch in einer Ebene sich ausbreiteten. Aber gleich drei bedeutende Vorzüge für ein und dieselbe Stadt?

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Wie so oft, wenn wir heute den malerischen Standort einer Ansiedlung bemerken, war dieser ursprünglich verkehrs- und militärstrategisch von ausweisendem Vorteile. So auch im Falle Heidelbergs: der Übergang des Neckartales in die Rheinebene. Schon die Kelten hatten den Heiligenberg befestigt; die Römer unterhielten am Nordufer des Neckars ein Kastell, überspannten den Fluss mit einer Pfahlbrücke. Auch hier hauten die Alemannen alles kurz und klein, siedelten wenige Jahrhunderte später die Franken. Aber auch für die Vorgeschichte Heidelbergs sollte ein ganz besonderer Meilenstein, weit älter als alles gerade Genannte, nicht fehlen: der Unterkiefer eines Urmenschen, eine halbe Million Jahre alt! Eines der ältesten menschlichen Zeugnisse Europas überhaupt, nach dem Fundort denn "homo heidelbergensis" genannt.
     Zu den fränkischen Dörfern nächster Umgebung (Neuenheim und Bergheim) traten ab dem 11. Jahrhundert zwei Klöster auf den Heiligenberg, deren romanische Grundmauern heute noch sichtbar — und auf der gegenüberliegenden Seite, also an den Königsstuhl "gelehnt", eine erste Burganlage, unterhalten von den Wormser Bischöfen.
     Als dann endlich ab circa 1170 Heidelberg als Stadt gegründet, indem nämlich der Halbbruder des berühmten Kaiser Barbarossa, Konrad von Staufen als "Pfalzgraf bei Rhein" hier eine neue Machtbasis für die Staufer schuf, da wollten, wie die zuvor genannten, auch sie von der verkehrgünstigen, der militärstrategischen Position profitieren: am Ausgang des wichtigen Neckartales konnten sie über alle Handelsbewegungen in das Tal hinein, oder aus dem Tal heraus bequem wachen. Gegebenenfalls war man für Offensiven sofort in der Rheinebene und für die Defensive von der Topographie steiler Talwände und freilich auch des nach Norden abschottenden Flusses begünstigt. Im Jahre 1196 wurde Heidelberg erstmals nachweislich in einer Urkunde genannt. Die Stadt gedieh sehr gut, eine Entwicklung, die 1392 in einer großen Erweiterung in Richtung Westen gipfelte. Mit dieser entlang des Neckars sich streckenden Vergrößerung trat der urbane Bereich, den man heute Altstadt nennt, gleichsam direkt an die Rheinebene. Im ausgehenden 19., vor allem aber im 20. Jahrhundert schwappte die Stadtgrenze dann weit in die Ebene hinein. Dem ästhetisch interessierten Augen wird hier kaum noch etwas, dann gar nichts mehr geboten.
     Gehen wir den drei Beigaben: Gebirge, Fluss und Ebene nun mit wenigen Worten genauer nach. Der große Reiz der hohen Talwände — im Norden mit dem Heiligen- und dem Michaelsberg, im Süden mit Gaisberg und Königstuhl — befruchtet die Stadtprospekte allenthalben. Das gilt für Gesamtansichten des Stadtkörpers, wenn man beispielsweise vom nördlichen Neckarufer auf die Altstadt blickt, wie sie zu Füßen des Königstuhls, oder entlang des Michaelsberges den Weg mit der bemerkenswerten Bezeichnung "Philosophenweg" einschlägt. Und umgekehrt, also von der Schlossruine blickend, gewahrt man Altheidelberg zusammen mit der nördlichen, gleichfalls bewaldeten Talwand. Aber auch aus dem urbanen Körper heraus bekommt man die einfassende Landschaft zumindest ausschnittsweise überreicht.

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Schaut man nach Süden, was leicht geschieht, weil das Schloss freilich mit Macht alle Blicke an sich zieht, so tritt beständig auch der Königstuhl in den Prospekt. Und schauen wir entlang der zahlreichen auf den Neckar zuführenden Gassen, so macht die nördliche Talwand den steil aufragenden Horizont. Für das Menschenwerk von Altstadt und Schloss bedeutet das Naturwerk des einfassenden Tales den zweifellos kongenialen Partner.
     Auch der Fluss zählt natürlich zur Natur, macht aber einen eigenen, ganz besonderen Reiz aus. Das Bild von Altstädten an Flüssen ergreift immer; ein ganz eigentümliches Moment verbreitet das fließende Element, wenn es auf historische Stadtkörper trifft. So auch in Heidelberg, da die schönsten Stadtprospekte immer den Neckar miteinbeziehen. Blickt man vom Nordufer, gewahrt man zunächst den Fluss, dann den Altstadtkörper, welcher gleichsam bekrönt von der ausgedehnten Schlossanlage, und endlich die südliche Talwand mit Gaisberg und Königstuhl. Ein Stadtbild, dass man sich nicht malerischer zu denken wüsste.
     Zwar hat der Neckar manchen Reiz einbüßen müssen, namentlich durch die Flussregulierung in den 1920ern. Schon damals wurde auf die abträgliche Wirkung solcher Kanalisierung hingewiesen. Vergeblich! Das Zeitalter des Funktionalismus hatte begonnen und setzte sich auch hier durch. Den Ufern mochte man die Reize "eindämmen", unmöglicherweise aber dem Elemente selbst. So blieb das Zusammenspiel Stadt - Fluss bis heute ein effektvolles; das widerspiegelnde Glitzern der Stadtzutaten im sanft dahinfließenden Strom.
     Von ganz besonderem Gewicht obendrein, dass die Altstadt durch den Fluss von direkt anschließenden Erweiterungen, die im 19. und 20. Jahrhundert nichts Gutes mehr verheißen konnten, verschont blieb. Der lange Altstadtkörper, von Ost nach West entlang des Fluss gestreckt, namentlich dessen Prospekt nach Norden erfreut sich dank des "sichernden" Neckars noch im frühen 21. Jahrhundert bester Gesundheit. Im 20. Jahrhundert war es mit der Baukunst, nach ihrer Dekadenz im 19. Jahrhundert, endgültig vorbei. Neue Baukunst konnte nicht mehr geschaffen werden, allenfalls die alte, die bestehende gesichert werden. Aber diese Rettung konnte der uneingeschränkten Hegemonie des Funktionalismus alleine dort abgerungen werden, wo Flüsse "abriegelten" und steile Topographien die Baulust bremsten. Und wie der Neckar die Altstadt Heidelbergs vor Verstellung durch Erweiterungen sicherte, so auch die steilen Talwände ab den 1950ern vor den um sich greifenden Ansiedlungsperipherien.

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Zur großen Schönheit der einfassenden Landschaft hat man also unbedingt auch ihren "rettenden" Effekt zu bedenken. Nach Norden, Osten und Süden unterbanden die rasch ansteigenden Höhen etwaige Erweiterungen großen Stils. Was dennoch möglich, ward im wesentlichen noch im späten 19. Jahrhundert ausgeschöpft, gelangte durch den seinerzeit so beliebten Villenbau im Stil des Historismus auch noch zu letzter Ansehnlichkeit, zu einem nur leichten Eintrag für das Altstadtbild. Alleine nach Westen, wo die Rheinebene zu unbegrenztem Wachstum einlud, ward gewaltig angeschwollen.
     Ein fast schicksalhaftes Glück konnte Heidelberg also drei nur wenig beeinträchtigte Altstadtränder sichern! Was mit der Stadtgründung alleine die strategischen Vorzüge erwog, erwies sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert als ein außerordentlicher Glücksfall! Als eine Altstadt in der Ebene, mit einem Schloss als Tiefburg, umlagert nach allen Seiten von kilometerdicken und gesichtslosen, ja hässlichen Ansiedlungsperipherien, wie sie unseren Zeiten üblich — der Ruhm Heidelbergs wäre zweifellos ein deutlich geringerer, kaum noch ein Ruhm von Weltgeltung!
     Indessen gewahrt man den dritten Aspekt, das Zusammenwirken mit der Rheinebene am besten vom Schlosse aus, namentlich vom dessen "Stückgarten" im Westen, der nämlich den Prospekt in Richtung Rhein bestens ermöglicht. Hier gewahrt man das Wunderliche, dass Heidelberg einerseits zwischen engen Talwänden und andererseits mit deutlichem Bezug auf ein weites, ganz und gar ebenes Feld. Der Reiz der Landschaft ergreift, wie das bis dato enge und tiefe Tal sich durchaus plötzlich zur Rheinebene hin verliert, ganz auflöst. Das Neckartal, welches ab der alten Kaiserpfalz in Bad Wimpfen auf den letzten 60 Kilometern mehr und mehr zu einer engen, von bewaldeten, teils felsigen Abhängen begleiteten Senke sich entwickelt, es strömt gleichsam ein in das vergleichsweise unabsehbare Rheintal. Entschiedene Enge trifft auf unbegrenzte Weite; mag man sich den landschaftlichen Effekt vergegenwärtigen!
     Wie das Tal einfließt, so freilich auch der die Einsenkung begründende Wasserlauf, der einst unberechenbare, ab den 1920ern durch Schleusen und Kanalisierung gebändigte Neckar. Aber auch der Stadtkörper selbst strömt regelrecht in die Rheinebene über. Das historische Heidelberg, namentlich bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts machte just am Übergange halt; alles Weitere schwappte dann gleich einer natürlichen Wirkung in die Weite der Ebene hinein. Nun hat man vom Stückgarten zu jenen an und für sich wenig attraktiven bis unansehnlichen neueren Partien solche Entfernung gewonnen, dass die städtebaulichen und architektonischen Fragwürdigkeiten im Einzelnen kaum noch auszumachen. Und so bemerkt man alleine wie der im Tal sehr eng gefasste Stadtkörper sich auf der Ebene mit einem Male frei entfalten, entschieden in die Breite gehen kann. Solchem Flusse aber, wie ein zunächst streng gefasster Leib sich mit einem Male ganz ungebunden ergießen kann, will man den Beifall keinesfalls verweigern. Zumindest aus der Ferne ein effektvoll’ Schauspiel!

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An Tagen klarer Luftverhältnisse gewahrt man von hier oben auch die Kraftwerke und Schlote Mannheims, wie die Rheinebene im Westen vom Gebirge des Pfälzer Waldes begrenzt.
     Schreiten wir nach der Ausführung über die landschaftliche Einbettung weiter zum zweiten bedeutenden Trumpf Heidelbergs: das Stadtschloss. Spricht man bei einem kleinen Land wie Baden von höchsten Superlativen gelangt man freilich schnell in den Verdacht eines überspannten Patriotismus‘; aber sichte man die einschlägige Literatur nur selbst recht fleißig um der Heidelberger Schlossruine nichts Gleichwertiges zur Seite stellen zu können. Was hier aus der Hand der Kurfürsten ab dem 12./13. bis ins 17. Jahrhundert erwuchs, ist zumindest als Schlossruine weltweit unübertroffen! Und solcher Glanz muss natürlich für eine Stadtgestalt, welche von diesem Gebilde in seiner Weitläufigkeit gleichsam überspannt, zu allergrößtem Nutzen für die Schönheit gereichen. Nichts Anderes sehen wir eingelöst!
     Für das Schloss soll auch im weiteren Verlauf der Stadtbeschreibung alleine das Zusammenwirken mit dem Stadtkörper ausgeführt sein. Die Ruine selbst ist eine kleine Welt für sich und wird in den "Wanderungen" mit einem eigenen Beitrag bedacht.
Monumental steht die große Burg über der Stadt. Sie schwankt durch ihre Bollwerke zwischen Trutz, der noch das Mittelalter herbeiruft, und einer feinen und sehr kostbaren Kunstsinnigkeit, wie sie nur die Renaissance eingeben konnte. Wucht hier, Zierlichkeit dort. Ein aufreizender Kontrast. Und ebenso aufrüttelnd das bizarr Ruinöse, das Gezackte, halb Verfallene, welches den Sprengungen 1693 und dem Blitzschlag 1764 geschuldet.
     Von nicht minder beitragender Wirkung der weitläufige Schlossgarten, der durch seine fast beängstigend hohen Stützmauern stadtbildprägend. Hier gewahrt man westlich des Schlosses die glatte Abmauerung des Stückgartens, monumental und abweisend. Noch entscheidender aber die lange und tief ausgehöhlte Arkade des östlichen Bereiches, der "Scheffelterrasse", weit ausgreifend in die Landschaft. Diese Partie gewinnt ihren allerhöchsten Reiz, wenn man sie vom nördlichen Neckarufer und namentlich unter Einbezug der "Alten Brücke" abwägt. Dann treten nämlich die großen, die sandsteinernen roten Bögen der einen und der anderen parallel von Süden nach Norden in den Prospekt. Ein Bild größten Effektes, wie die Altstadt mit langen "Armen" in die Umgebung greift; zu Häupten der Stadt in den Abhang des Königstuhls und im Vordergrund über den Fluss hinweg. Das die Vollendung eines Stadtprospektes, der deutschlandweit allenfalls Gleichwertigkeit, freilich seinerseits selten genug erreicht, zu dulden hat.

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            Fortsetzung auf der nächsten Unterseite: Heidelberg '2' [Link]

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