Baukunst in Baden
  Heidelberg '2'
 


Doch ebenso aus dem Stadtleib betrachtet, tritt das Schloss und sein Garten allenthalben in die Prospekte der Straßen, Gassen und Plätze. Regelmäßig gewahrt man, wie Touristen gleichsam "eingewurzelt", von diesen Bildern regelrecht gebannt. Und auch der geübte Blick wird immer wieder aufs neue gefesselt. Die sich darbietenden Ansichten sind zu großartig um sie dauerhaft in das Gemüt zu führen. Gleichgültig wie deutlich die Erinnerung von jener Bedeutsamkeit überliefert, blickt man dann nach oben, so übermannt der Anblick des über der Stadt thronenden Schlosses doch wieder aufs gewisseste. Man wüsste sich ein ergreifenderes Zusammenspiel von Stadt und Schloss nicht zu denken.
     Mag man aus den vielerlei, ja zahllosen Prospektmöglichkeiten lediglich vierer eigens gedenken. Blickt man von der Alten Brücke, lassen sich Schloss und Garten, gerahmt noch ganz vom Königsstuhl, erfassen; durch diesen Blickwinkel nur wenige Meter über dem Dachgewimmel der Altstadt sich entbreitend. Trefflich auch die Ansicht vom Marktplatz, zumeist wenn man das anmutige barocke Rathaus miteinfließen lässt; nunmehr hat die Perspektive den Königstuhl schon weit zurückgedrängt, will heißen nur noch als dünnen Rahmen gelten lassend. Und endlich wirkt das Schloss vom Kornmarkt und dann vom Karlsplatz ganz für sich selbst, da nämlich die Perspektive die natürliche Einfassung getilgt. Wie an einer Schnur gezogen reihen sich mehrere Schlossbauten aneinander und geben aus solcher Nähe auch schon ihre ersten Fassadendetails zur Anschauung. Das zunächst irritierte Auge muss sich dann zwischen dem gediegenen Barock der Stadthäuser, der feinen Renaissance und dem wuchtigen Mittelalter der Burgwerke entscheiden.
     Der dritte Trumpf der wunderlichen Weltgeltung Heidelbergs sticht durch die Altstadt selbst. Auch sie ist ein Gebilde höchster Anmut, stünde auch ohne Schloss ganz unbeschadet an der Spitze der schönen Städte Badens, unter den ansehnlichsten Urbanitäten Deutschlands.
     Freilich kann dies nichts Anderes bedeuten als Schonung im Zweiten Weltkrieg, der so vielen deutschen Städten die historische Attraktivität auf immer genommen. Für Baden zum Beispiel hat man vor allem den Verlust Altfreiburgs, einst auf gleicher Augenhöhe mit Heidelberg, zu beklagen. Nur einen sehr geringen Bombenbewurf musste Heidelberg dulden; und noch heute hält sich hartnäckig das Gerücht, dass seinerzeit Flugblätter abgeworfen, die die Schonung mit der bevorstehenden Inbesitznahme durch den amerikanischen Alliierten, welcher nämlich hier ein Hauptquartier aufzuschlagen gedachte, erklärten. Aber wie dem auch sei, Altheidelberg blieb weitgehend unzerstört, damit auch ein modernistischer Wiederaufbau aufgespart.
     Nach der Errettung aus dem Luftkrieg, der 1942 bis 1945 tobte, stand die Altstadt schnell genug wieder in Gefahr. Kein gutes Haar ließ der zeitgemäße Modernismus an der historischen Baukunst; tatsächlich raubte er noch mehr historischer Bausubstanz die Existenz als der Zweite Weltkrieg selbst!

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Wo andere Städte böse überrumpelt, konnte sich Altheidelberg durchaus sehr gut behaupten. Mag die schon historisch sehr selbstbewusste Bürgerschaft (manch Kurfürst klagte sein Leid) das Luftteufelchenspiel des Modernismus sogleich als leeres Gerede aufgedeckt haben. Denn in der Altstadt konnte der Stil der neuen Zeit seine funktionalistische Gesichtslosigkeit nur an sehr wenigen Stellen verbreiten. Nur von den Rändern her, leider mit einiger Konsequenz im Osten zwischen Karlstor und Altstadt, will er gleichsam zersetzend in den Körper hineingreifen. Die weitläufigen inneren Bereiche aber ließen nur Ausnahmen zu.
     Und hier kommt es zu einem regelrechten Schauspiel. Nirgendwo erscheint der "Sieg des Funktionalismus", man muss regelrecht sagen: lächerlicher als in der Altstadt Heidelbergs. Alle hehren modernistischen "Wahrheiten von Form, Konstruktion, Material und Funktion" zerbrechen als losestes Gerede an den barocken Fassaden der Nachbarn. Man reibt sich die Augen, will aus dem Staunen nicht mehr herauskommen; lange sucht man nach einem Gleichnis, wähnt sich endlich im antiken Rom bei der Vorführung kleiner schmutziger Barbaren. Wem wollte der Modernismus hier etwas vormachen? Der Scharlatan stammelte der Königin kurz etwas vor; dann ward das Zepter gesenkt und der Stil der Anti-Baukunst aus Altheidelberg verbannt.
     All jene Wahrheiten von "Form, Konstruktion, Material und Funktion" sind eben nur Halbwahrheiten. Wo keine Vermittlung derselben durch Baukunst, wo keine Vermittlung zum betrachtenden Auge, da gilt billig, was Friedrich Nietzsche so prägnant ausdrückte: "Die Wahrheit ist hässlich: wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehen." [1]. Und wo jenes Zerrbild der Bauaufgabe neben das Idealbild, wo der Modernismus neben Heidelberg tritt, da wird der Gegensatz, da wird das reale Verhältnis so überdeutlich, dass man sich zuungunsten des Modernismus amüsiert, ja fast ins Lachen geraten will. Freilich bleibt einem letzteres durchaus im Halse stecken, denkt man wieder an das "draußen", wie dort der Modernismus eine Hegemonie aufgerichtet und sein Wesen von Jahr zur Jahr ganz ungebrochen forttreibt. Die Baukunst ist unterlegen, dem heutigen Bauwesen vollends getilgt, ausgetrieben wie ein böser Dämon, so erfolgreich, dass nur ein allgemein gültiger Zeitgeist dahinter stehen kann. Baukunst wird nicht mehr geschaffen, sie ist alleine als historisches Erbe noch zu verteidigen. Das aber gelang in Altheidelberg mit ganz besonderer Konsequenz, als sei die alte kurpfälzische Capitale wieder zum Bollwerk geworden.
     Freilich musste auch diese Altstadt saniert werden, und das geschah ab 1972 unüblich früh. Zu diesem Zeitpunkt hatte man in den sich rasch ausbreitenden Peripherien wohl schon genug der glücklosen Gestaltungsexperimente beobachtet. Man sprach von einer "Jahrhundertaufgabe" — zurecht! Und als jene 1978 fertiggestellt, da war es dann zumindest auf viele Jahrzehnte gerettet, das Altstadtbild, das die ganze Welt staunen macht.

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Was ist es aber, das die selbstbewussten Heidelberger so erfolgreich verteidigen konnten? Kurzum: eine Barockstadt auf mittelalterlichen Stadtgrundriss! Eine Kuriosität wie sie im 18. Jahrhundert für viele badische Städte galt, weil eben Frankreichs Ludwig XIV., der "Sonnenkönig" so unbarmherzig nach denselben schlug. 1689 ward Heidelberg im Pfälzischen Erbfolgekrieg erstmals erobert. Da aber waren die Niederbrennungsversuche noch zu halbherzig, alsbald wieder gelöscht. Viel konsequenter zeigten sich Eroberer bei den Städten der Rheinebene, wo zum Beispiel die badisch-markgräflichen Residenzen Durlach und Baden-Baden im selben Jahr wortwörtlich dem Erdboden gleichgemacht.
     1693 kamen sie dann das zweite Mal. Ein stümperhaftes Oberkommando ließ die barock bastionierte Stadt, die durchaus wehrhafte Befestigung allzu leicht in französische Hand kommen. Panik breitete sich aus, und was laufen konnte, gleich ob Soldat oder Bürger, stürmte nach dem Schloss. Dort verschanzte man sich, während unten in der Stadt geplündert wurde. Der Invasor ließ dabei alle Vorsichtigkeit missen und steckte die Stadt mehr versehentlich als willentlich in Brand. Der Untergang der prächtigen Mittelalter- und Renaissance-Capitale Heidelberg! Im vollgepfropften Schloss, insbesondere unter den Bürgern machte sich eine Verzweiflung breit, die die Soldaten mehr zermürbte als die Umstellung der Veste durch französische Truppen. Diese stellten sich derweil auf eine lange Belagerung der wehrhaften Burg ein, waren umso erleichterter, als die Besatzung wenige Tage später das "Handtuch warf".
     Und als man kurze Zeit danach die Verteidigungsanlagen des Schlosses, die Türme weg- oder aufgesprengt hatte, war er denn (fast) vollendet: der Untergang der prächtigen Mittelalter- und Renaissance-Capitale Heidelberg.
     Das hatte man sich nur wenige Jahre zuvor noch ganz anders vorgestellt, das Verhältnis mit dem so mächtig gewordenen französischen Nachbarn. Heiratspolitik sollte nämlich enge Bande knüpfen: Kurfürst Karl Ludwig gab seine Tochter Elisabeth Charlotte dem Bruder des "Sonnenkönigs" zur Frau. Als dann aber der Heidelberger Zweig der Wittelsbacher unglücklicherweise ausstarb, machte der "Sonnenkönig" nicht ganz zu Unrecht Ansprüche auf die Kurpfalz geltend. Das Deutsche Reich und seine Fürsten wollten die weit nach Deutschland hineinreichende Kurpfalz freilich keineswegs in französischer Hand sehen und verweigerten. Gleichzeitig sah sich Ludwig XIV. bedenklich isoliert in Westeuropa. Und als man ihm die Kurpfalz verweigerte, war dies der beste Vorwand gleichsam eine Schutzzone zwischen Frankreich und Deutschland anzulegen; anzulegen freilich auf des Gegners Boden. 1688/89 schlug er den nach seinem Ursprung benannten "Pfälzischen Erbfolgekrieg" vom Zaune.

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Die Schutzzone sollte als ein veritables Niemandsland verstanden werden, weshalb die rechtsrheinische Ebene bis auf wenige Ausnahmen vollkommen verwüstet wurde: bis auf Freiburg und Breisach, welche französisch okkupiert, Weinheim und Ladenburg im Norden ward jede Stadt, fast jedes Dorf niedergebrannt! Der Pfälzische Erbfolgekrieg und zuvor in den 1670ern der Holländische Krieg, der Südbaden ebenso auf Befehl des "Sonnenkönigs" mit gleicher Gründlichkeit drangsalierte, waren die große Heimsuchung Badens, noch schlimmer als der 30jährige Krieg und der Zweite Weltkrieg.
     Wie schon dargelegt war Heidelberg um 1170 als Stadt relativ spät gegründet worden. Um so kraftvoller aber entwickelte sich die seit dem frühen 13. Jahrhundert an die Wittelsbacher gefallene Ansiedlung, erst recht nachdem die "Pfalzgrafen bei Rhein" ab 1329 mit von den bayrischen Wittelsbachern abgetrenntem eigenen Territorium und ab 1356 mit dem so einflussreichen Kurrecht ausgestattet. Damit zählten sie zu den sieben Kurfürsten, denen die Wahl des Kaisers vorbehalten. Da durfte denn 1392 eine große Stadterweiterung Richtung Westen nicht fehlen, ja, und schon 1386 gründete Kurfürst Ruprecht I. mit der Heidelberger die erst vierte Reichsuniversität nördlich der Alpen!
     Ruprecht III. brachte es von 1400-1410 dann sogar zum deutschen König! Und während im 15. Jahrhundert der kurfürstliche Hof Humanisten von nah und fern anzog, kam es im darauf folgenden Jahrhundert zu einer schicksalhaften Wende, als nämlich ab 1556 die Kurpfalz durch den Fürsten Ottheinrich dem Protestantismus zugeneigt. Ab 1608 und namentlich durch Friedrich IV. übernahm man gar die Führung in der evangelischen Union des Reiches. Und noch unter Friedrich V. blühten die Stadt und Schloss immer weiter, seit fast einem Jahrhundert nach den Stilregeln deutscher Renaissance. Wie man politisch ganz vorne im Deutschen Reich, so auch in Kunst- und Bildungsfragen. Die Bedeutung der Kurpfalz bildete sich immer ganz direkt am Stadtbild ab.
     Auch im Falle Heidelbergs blieb es Matthäus Merian, dem berühmtesten Kupferstecher Deutschlands, vorbehalten die schönste aller Stadtansichten Heidelbergs für die Nachwelt festzuhalten. Ab 1620 fertigte er neben weiteren Ansichten vor allem zwei Prospekte, die noch heute billig in Erstaunen setzen. Beide zählen zu seinen schönsten Stadtansichten Deutschlands, ja sogar Europas. Der erste zeigt Altheidelberg der Länge nach, aus einiger Höhe von der nördlichen Talwand (Michaelsberg) betrachtet. Und der zweite überblickt aus Richtung Osten, dabei das Schloss und dessen seinerzeit hochberühmter "Hortus Palatinus" (Schlosspark) im Vordergrund.

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Man kann sich exakt so lange kein schöneres Altheidelberg denken bis man diese zwei Stiche sieht. Was einem hier entgegenblickt, will man beinahe für ein Märchen halten! So wunderbar das Bild der Altstadt im frühen 21. Jahrhundert, die mittelalterliche und renaissancistische Pracht Heidelbergs überbietet nochmals um ein gerüttet Maß. Das geübte Auge entlockt dem kleinteiligen, filigranen Stich eine Anzahl sehr stattlicher Bauten, die heute nicht mehr oder nur noch in Teilen existieren. Unmöglich an dieser Stelle näher darauf einzugehen; alleine dies eine Beispiel: was der Kurpfalz das militärische Zeughaus (am Neckarufer und teilweise noch erhalten), das war anderen, kleineren Fürstentümern das Residenz-Schloss! Über allem auch hier das weitläufige Schloss, ins Bild gebracht just in seiner höchsten Blüte. So reizvoll auch heute noch die Schlossruine und der große Garten, was 1620 zu sehen, zeichnet ein Bild von solch’ vollendeter Kunstfertigkeit, das es das moderne Auge alleine durch Überanstrengung zu Tränen rühren muss. Ein einziger Blick auf die Ansichten genügt, um sich die seinerzeitige Bedeutung der Kurpfalz zu vergegenwärtigen.
     So bedeutend war sie auch 1618, dass Böhmen Kurfürst Friedrich V. die Königswürde antrug. Und dieser ließ sich unglücklicherweise auf das Wagnis ein. Ein solches hieß es nämlich, sich die "Wenzelskrone" gegen die bis dato dieselbe innehabenden Habsburger aufsetzen zu lassen. Das ward von letzteren nicht geduldet! Und was nun daraus folgte war nicht nur der Spottname "Winterkönig" für den Kurfürsten, weil der sich nämlich nur 1619/20 in Prag erhalten konnte; was nun daraus folgte war nichts geringeres als der gräuliche 30jährige Krieg, der also indirekt ausgelöst durch die Kurpfalz! Von 1618-48 tobte die Drangsal durch das Reich, immer Hungernöte und die Pest im Marschgepäck der gewaltigen Heere. Eine der zahlreichen Zerstörungsschneisen musste denn auch zur Hauptstadt der Kurpfalz gelangen: 1622 belagerte der berühmte Tilly. Alsbald nahmen die Kaiserlichen die protestantische Stadt ein. Böse wurde hier geplündert; und die Stadt bis 1648 noch mehrmals belagert und erobert.
     Die Peinigung der Stadtbevölkerung gelangte aber noch nicht zu ihrem Gipfel, schadete den Menschen, nicht aber der Stadt selbst. Den 30jährigen Krieg überstanden Stadt und Schloss weitgehend unbeschädigt. Um so leichter konnte die ab 1648 wieder freie und wieder mit Kurwürde bestückte Kurpfalz neuerlichen Aufschwung nehmen. All das aber ward ab 1693 Historie! Bis auf wenige Ausnahmen versank die mittelalterliche und renaissancistische Stadt in Schutt und Trümmern. Heidelberg hatte um zahlreiche Fachwerkhäuser gewusst und die brannten freilich lichterloh, ferne von Löschbemühungen. Auch das Schloss litt, wie dargelegt. Dies die größte Zäsur in der Geschichte Heidelbergs, ablesbar noch am heutigen Stadtbild.
     Die Hauptstadt und weitere wichtige Städte der Kurpfalz, wie das nahe Mannheim, sahen sich ab 1689 ausgelöscht, keineswegs aber die Kurpfalz selbst. Zu bedeutend war sie um nicht wieder aufzustehen. Nach Beruhigung des unruhigen "Sonnenkönigs", nach dem Friedensschluss von Rijswijk 1697, erstand Heidelberg kraftvoll im Stile einer bedeutenden Capitale aufs neue!

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Da ward sie denn geboren, die Barockstadt — die Barockstadt auf mittelalterlichem Stadtgrundriss. Bis auf wenige Ausnahmen blieb nämlich der Verlauf der Straßen und Gassen, die Größe der Plätze erhalten; freilich auch die Kleinteiligkeit der Bebauung, wenngleich das neue Barocke hier und da breiter errichtete, indem es kleinere Parzellen (Baugrundstücke) zusammenfasste. Alles signifikant Unterschiedliche erbrachte alleine der neue Baustil, die Barockbaukunst.
     Als einer bis dato immer modernen Stadt war es Heidelberg blanke Selbstverständlichkeit, die Neubauten ferne aller mittelalterlichen oder renaissancistischen Reminiszenzen, alleine nach den neusten Prinzipien für die Gebäudegestaltung auszuführen. Statt der abgegangenen Fachwerkhäuser nun also verputzte Steinbauten, nach der mittelalterlichen Giebel- jetzt eine Traufständigkeit, und nach (spät-)gotischem und Renaissance-Schmuck nun die Zierden der Barockkunst. Was hier noch ab Ende des 17. Jahrhunderts sich zu neuerlicher Blüte aufschwang, sah deutlich anders aus als das wenige Jahre zuvor Niedergebrannte. Aber es kam auf dem erhaltenen, dem mittelalterlichen Stadtgrundriss zum Stehen. Daraus nun sollte eine weitere wunderliche Wirkung entsprießen.
     Man kann im Falle Heidelbergs nicht von einer Barockstadt im genuinen Sinne sprechen, ebenso wenig von einem Werk des Mittelalters. Im Grunde greifen beide dergestalt ineinander, dass notwendige Konturen — um noch sauber zu sezieren — nicht existieren. Man schaut zwar vornehmlich auf barocke Fassaden, aber man bewegt sich in mittelalterlichen Räumen. Echte Barockstädte Badens hießen Mannheim, Karlsruhe und Rastatt. Und dort war nicht nur das Erschließungssystem streng geometrisch, es ließ sich auch nur niedrige säumende Gebäude gefallen: ein- bis maximal dreigeschossig. Zwar zeigte sich der mittelalterliche Stadtgrundriss Heidelbergs schon ungewöhnlich rational, allenthalben den rechten Winkel suchend, die Kurvung vermeidend, von der Rigidität echten barocken Städtebaus aber konnte noch keine Rede sein. Und man muss durchaus sagen: zum Glück! Die Quadrate Mannheims, der Strahlenkranz Karlsruhes, Rastatts Klein-Versailles waren spektakulär, aber auch von einer Strenge und Künstlichkeit, die gleichsam unnatürlich, jenseits der ersten Effekte nur als merkwürdige Zeiterscheinung Geltungsrecht besitzen sollten. Ganz anders Heidelberg, und man atmet auf! Eine Rigidität kann man in der Rechtwinkligkeit des Grundrisses nicht erspüren.
     Und während man in den genannten Barockstädten regelmäßig zweistöckig errichtete, so in Heidelberg regelmäßig drei-, bisweilen gar viergeschossig. So attraktiv war Heidelberg geblieben, soviel "Druck" lag von allem Wiederanfang auf den Grundstücken, dass man höher (und damit auch teurer) baute! Das die einzige Abweichung beim ansonsten rein barocken Hausbau: man suchte nicht die gelinden Gebäudehöhen wie andernorts, sondern blieb bei den mittelalterlichen Höhen. Damit aber änderte sich auch die Raumwirkung in den Straßen und Gassen, auf den Plätzen nicht — und diese Raumwirkung ist eine mittelalterliche!

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Und jenes "Umkippen" der barocken Bebauung in eine mittelalterliche Atmosphäre, sie wird natürlich durch die Artefakte, deren steinerne Ausführung dem wütenden Stadtbrand trotzte nurmehr gefördert. Von mehreren Gebäude kann hier noch die Rede gehen — wir werden später auf sie eingehen — vor allem aber thront allenthalben das Mittelalter- und Renaissance-Schloss über den barocken Prospekten. Natürlich muss es Punkte geben, die recht rein der einen oder der anderen Wirkung zufallen: in der breiten Hauptstraße kann man sich durchaus einzig barock fühlen, angesichts der Schlossruine alleine mittelalterlich. Der Gesamteindruck aber, er schwingt erbaulich zwischen beiden hin und her.
     Ergänzende Sätze zum Stadtgrundriss. Die sehr lange und sehr gefällige Hauptstraße durchquert den gesamten entlang des Neckars gestreckten Altstadtkörper, im wesentlichen gerade, im älteren östlichen Teil aber mit leichten, angenehmen Schwüngen. Diese Hauptachse teilt den Stadtleib in Nord- und Südhälfte, wobei die letztere ein wenig breiter. Unzählige Straßen und Gassen biegen rechtwinklig von der Hauptstraße ab; sie formen im weiteren Verlauf typische Stadtblöcke. Jene erzeigen sich im ältesten Stadtbereich deutlich kleiner als im jüngeren westlichen. Und wenn auch Gaisberg und Königstuhl alsbald steil ansteigen, so verblieb zwischen ihnen und dem Neckarlauf dennoch ein nach Westen immer breiteres Plateau, das für die Stadtentwicklung natürlich besonders interessant. Zu einer Gebirgsstadt nämlich wollte Heidelberg keineswegs geraten. Bis auf wenige Ausnahmen blieb Heidelberg bis zum frühen 19. Jahrhundert auf die Talsenke beschränkt; erst später und namentlich in Blütezeiten des Historismus (1870-1900) hangelten sich Villen in Richtung Schloss hinauf: gerne große und pompöse Gebilde, meist noch ansehnlich, bisweilen lustig mit wehrhaften Zitaten, mit Türmen und Türmchen.
     Es wird nicht wunder nehmen, dass Heidelberg gleich mit einer Anzahl einladender Plätze. Am schönsten der große Marktplatz, welcher im Herzen des ältesten, im übrigen auch (noch) schöneren Altstadtbereiches, also mehr östlich, austariert zwischen Fluss und Berg. Die gotische Schönheit der Heiliggeistkirche und das barocke Rathaus dominieren den Platz, der ansonsten um ruhige, teils modellmäßig-homogene Barockbauten weiß. Natürlich muss auch der Marktplatz zum schönsten ganz Badens zählen, übertroffen alleine von der Südhälfte des Freiburger Münsterplatzes. Man kann diesen Platz reizvoll in zweierlei Grundgestalt ausmachen: einmal als Quadrat, das von Gottes- und Rathaus aufgespannt; dann aber auch als riesiges Rechteck, über welches die Heiliggeistkirche lustig hinwegschippert. Entscheide jeder für sich selbst.

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Ansehnlich auch der große Karlsplatz, aufgezurrt von zwei langen Palais und dominiert vom Schlossprospekt, der sich hier parallel zum Platz der Länge nach präsentiert. Einen Tick gefälliger, einen Tick inniger der Kornmarkt, zwischen Markt- und Karlsplatz. Auch hier lugt mächtig die Ruine ins Bild; im Norden begrenzt das Rathaus. Mag man auch dem nicht kleinen Universitätsplatz Reize abgewinnen; solange man nach Norden auf das gewaltige Volumen der "Alten Universität", oder nach Osten blickt. Im Rücken aber hat man den steril wirkenden Bau der "Neuen Universität", der ab 1930 errichtet ratlos zwischen klassischer Moderne und Traditionalismus gefangen — und im Westen kann über Fertigteil-Modernismus der 1970er geschmunzelt werden.
     Wieder geschlossen von Baukunst profitierend die kleinen Plätze von Fischmarkt (auf den Marktplatz übergehend), der effektvoll dreieckige Heumarkt und der Platzraum am Brückentor. Alle drei profitieren zumeist von kleinteiliger Bebauung kommen alleine deshalb nicht in heimelige Stimmung, weil fast immer viele Menschen für Leben und Trubel sorgen. Weitere Plätze (auch große Innenhöfe) ließen sich nennen, nicht nur der Autor preferiert aber diese sieben Hauptbeispiele.
     Von den weiteren Straßen und Gassen zu berichten, verbietet sich ganz; wir würden uns im Endlosen verlieren! Am schönsten und beeindruckendsten die "unaufhörliche" Hauptstraße; und am romantischsten die unzähligen auf den Neckar zuführenden Gassen.
     Gewaltig angeschwollen ist dieser Vortrag bereits — obgleich alles nur grob nachgezeichnet, obgleich noch nicht ein einziges Gebäude beschrieben! Aber freilich darf dies nicht fehlen. Denn was wäre städtebauliche Qualität ohne die architektonische? Nur die "halbe Miete". Bestenfalls!
     Aber auch hier müssen zunächst einige allgemeine Bemerkungen fallen. Vom barocken Neubeginn ward eingehend schon gesprochen; er ist zu ergänzen um zahlreiche Gebäude aus der ersten Hälfte des Folgejahrhunderts (19.). Wie die Barockwerke zeigen aber auch sie Putzeinhüllung, ruhiges Fassadenwesen, damit Kontinuität zum 18. Jahrhundert (der Laie wird eines Unterschiedes kaum gewahr). Vergleichsweise wenig Modernismus drang hinter die abgetragenen Stadtmauern — wir sprachen davon — und glücklicherweise auch nur wenig echter Historismus. Auch diese geschicklos detailreichen Gebäude, diese Dekadenz der Baukunst des späten 19. Jahrhunderts will beim Abgleich mit Heidelbergs Idealbild nicht wirklich gefallen. Andernorts (z.B. auch am Schlossberg, wo der Historismus unter sich) würde man ihnen noch zuneigen, hier aber treten die Nachahmungen von Mittelalter und Renaissance zumindest dem geübten Auge irritierend ins echte Bild. Aber auch dieser Eintrag zum Glück nur eine Randnotiz!

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Im Ganzen gewahrt man eine homogene Bebauung aus Putzfassaden, unter Hegemonie der barocken Stilmittel. Eine Vielzahl bemerkenswerter barocker Entwürfe belebt diesen Gleichklang. Durchaus noch reizvoller, durchaus noch wichtiger aber die Überreste, deren steinerne Wände dem Stadtbrand 1693 keine Nahrung boten. Sie nämlich lockern den barocken Geist durch ältere Stilmerkmale umso belebender auf. Freilich ist hier wiederum das Schloss Maß aller Dinge. Wichtig aber auch die weiteren Exponate aus Mittelalter und Renaissance: Heiliggeist- und Sankt Peterskirche, der Hexenturm, welcher der letzte erhaltene Wehrturm — alle drei bringen die Gotik zur Anschauung; das große Zeughaus und ein Rundturmrest (Frauenturm), der von der barocken Heuscheuer "recycelt" ward, strotzen in der Wucht des Mittelalters; das Brückentor streckt noch zwei spätgotische Rundtürme in die Höhe; und die feine Renaissance glänzt, neben dem Kleinod "Rodensteiner Türmchen" und einem erstaunlichen Säulenportikus an der Hauptstraße, vor allem durch das, man muss sagen, sensationelle "Haus zum Ritter Sankt Georg".
     Die barocke Wohlspeise Altheidelbergs findet also zahlreiches, veredelndes Gewürz. Ja, wäre Heidelberg eine Suppe, zuviel der Köche hätten hier ihr Salz beigemischt! Im Falle einer Stadt aber nimmt man die enorme Vielzahl der Sehenswürdigkeiten sehr gerne entgegen. Ihre Anzahl erstickte eine drohende Gefahr schon im Keime. Als eine nämlich homogene Bebauung, die in ihren Gebäudehöhen nur wenig differiert, einseitig auf Putzfassaden setzt, war ihr die Problematik zu gleichförmiger Straßenzüge naturgemäß beigegeben. Bei aller Qualität im Einzelfall, welcher unter barocker Ägide wiederum der häufigen Wiederholung nicht entsagen konnte — eine Gleichmäßigkeit hätte sich ausbreiten können, die ein Zuviel der Ruhe, ein Zuwenig der Belebung. Dem aber traten von allem Anfang an die mittelalterlichen Artefakte, auch die noch zu bezeichnenden Prachtbauten des Barock so entschieden entgegen, dass man solche Gefahr heute nicht einmal mehr ahnt.
     Umso betrachtenswerter dann auch die ruhigen Barockbauten, wie sie in riesiger Zahl vor allem ab 1700 in die Höhe sprossen. Trotz der Not des ausgehenden 17. Jahrhunderts, die natürlich auch die Kurpfalz in festem Griff haben musste — man erkennt an den Stadthäusern, dass Heidelberg um vieles potenter als die badischen Leidensgenossen. Nirgendwo sonst trifft man auf solche Anzahl von Palais; vermutlich besaß selbst das 1720 als kurpfälzische Capitale ablösende Mannheim nicht diese Zahl.
     Und keinesfalls die anderen größeren Residenzen des späteren Großherzogtums: Bruchsal (Hochstift Speyer), Durlach und Karlsruhe (Markgrafschaft Baden-Durlach), Baden-Baden und Rastatt (Markgrafschaft Baden-Baden), Wertheim (Grafschaft Wertheim) oder Donaueschingen (Fürstenberg). Nichts davon reichte nur annähernd an Heidelberg heran. Mehrere prächtige Palais findet man noch heute in Freiburg, dem vermögenden Hauptort des habsburgischen Vorderösterreich; aber die Stadt war im 17. Jahrhundert nicht zerstört worden, hatte schlicht nicht den Neubaubedarf wie Heidelberg.

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Dementsprechend liegt Heidelberg auch bei den gewöhnlichen Stadthäusern weit vorne. Nirgendwo sonst kamen auch die einfachen Bürgerhäuser in so großer Zahl zu solcher Detailqualität. Sehr edel vor allem die Öffnungsrahmungen, mehrfach profiliert und mit den stiltypischen "Ohren" (Ausladungen am oberen Rahmenanteil); was bei genannten Städten (Ausnahme Mannheim und Freiburg) nur ausnahmsweise, mitunter überhaupt nicht zu sichten, das reiht sich in Heidelberg Haus an Haus! Sei nochmals darauf hingewiesen, dass die Heidelberger überdies durchschnittlich um ein Stockwerk höher bauten, was selbstverständlich umso kostspieliger.
     Von solcher Attraktivität die Hauptsehenswürdigkeiten Heidelbergs, seien sie nun mittelalterlich, renaissancistisch oder barock, dass sie zumindest immer unter den Vorzeigewerken Badens, oft genug auch unter den schönsten ganz Deutschlands.
     Ganz vorne steht natürlich das Schloss mit seinen Palästen, Türmen und Bollwerken. Ihm gilt in den Wanderungen, wie bereits angezeigt, ein eigener Beitrag; eine kleine Welt für sich entdeckt man dort oben! Aber einmal mehr soll das Schloss Ausgangspunkt sein, Ausgangspunkt nämlich für die Betrachtung der weiteren anmutigsten Gebäude der Altstadt.
     Von diesen wüsste man wohl nichts Vorteilhafteres zu sagen, als dass sie in ihrer Schönheit gleichsam wie "natürliche" Ableger der zu Häupten regierenden Schlosspracht, ja, wie mutig und erfolgreich nacheifernde Triebe, deren Geburt das Schloss gewirkt. Bei den meisten von ihnen drängt sich dieser Verdacht umso entschiedener auf, als ihnen ein ungeschriebenes Gesetz das gleiche Fassadenmaterial — roter Sandstein — aufgeprägt; für die gesamten Fassaden oder zumindest für deren Hauptanteil. Abseits des Schlosses tritt der rote Sandstein nur selten auf, wo immer er aber zu sehen, hat man fast immer eine der Hauptsehenswürdigkeiten vor Augen, wird darüber das reizvollste Band mit dem überragenden Bauwerk Heidelbergs geknüpft! (Alleine mehrere Werke des Historismus und die Schleusenpylone der 1920er rechne man hier heraus, obgleich freilich auch sie, als feiste Eindringlinge, von diesem Effekt profitieren).
     Benennen wir sie also, sogleich das stilistische Hauptmerkmal und die Einordnung beigebend. Lassen wir, um nicht mit Willkür eine Reihenfolge zu gewinnen, die Chronologie ihr berechtigt’ Werk tun:
     1) der Hexenturm, erbaut im 13. Jahrhundert, zeigt auf der Innenseite eine dreifach gestapelte Spitzbogenarkade — dergleichen kunstvolle Ansicht, die wohl einem Schlosse gebührte, findet man in Baden kein zweites Mal. 2) die Heiliggeistkirche ist ein spätgotisches Schmuckstück, kraftvoll aus dem Stadtkörper in die Höhe tretend, in Baden nur von den Münstern in Breisach, Freiburg und Konstanz übertroffen.
     3) das ab 1510 erbaute spätgotische Zeughaus, eine Burg in der Stadt, einst in der Manier eines kleinen Residenzschlosses; das Geviert mit vier runden Ecktürmen zählt zu den wertvollsten mittelalterlichen seiner Art in ganz Deutschland (historisch und aktuell). 4) das Juwel der Altstadt: "Haus zum Ritter Sankt Georg"; ein überaus feingliedriges Renaissancewerk, das unter den schönsten Deutschlands und das in Baden nur noch in den Heidelberger Schlosspalästen gleichwertiges findet.

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           Fortsetzung auf der nächsten Unterseite: Heidelberg '3' [Link]
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