Baukunst in Baden
  Wössingen Kirche (05)
 

Evangelische Kirche Wössingen (Walzbachtal, Landkreis Karlsruhe)   /   Friedrich Weinbrenner, Christian Theodor Fischer / 1817-22


Die evangelische Kirche zu Wössingen (Ortsteil von Walzbachtal, nahe Karlsruhe) darf sich zunächst ihrer überaus glücklichen topographischen Lage "rühmen". Neben dem Münchweierer Gotteshaus (bei Ettenheim, gleichfalls "Sammlung 1") weiß sie darin, unter denen im Stile Weinbrenners, um den größten Segen. Rund zehn Meter über dem Dorfe blickt sie, blickt vor allem der ihm zugewandte stämmige Campanile entlang einer langen Freitreppe auf die umgebenden Häuser. So hervorgehoben besitzt der Kirchturm auch eine nicht geringe Fernwirkung, welche gerade ob des gelungenen Entwurfs sehr angenehm.
     Der Kirchenbau entstand in den Jahren 1817-22 und lag im direkten Einzugsbereich des badischen Oberbaudirektors Friedrich Weinbrenner. Christian Theodor Fischer, als wichtiger Mitarbeiter Weinbrenners in Karlsruhe fertigte die Zeichnungen und beaufsichtigte vermutlich auch die Ausführung. Man hat davon auszugehen, dass Weinbrenner den Gebäudeentwurf fertigte — möglicherweise aber liess er den fähigen Fischer [A] auch selbst gewähren, dies aber gewiss nicht ohne Aufsicht und eventuelle Korrekturen. Die hohe gestalterische Qualität spricht jedenfalls deutlich für ein wie auch immer geartetes Mitwirken Friedrich Weinbrenners [B]. Der Entwurf folgt der Weinbrennerschen Grundkonzeption primärer Natur: zwei einfach zu erfassende Baukörper, das Satteldach-gedeckte rechteckige Kirchenschiff und der mit geknicktem Zeltdach schließende Kirchturm zeichnen auf der Eingangsseite eine spannungsvolle und gleichfalls schnell erkennbare Schnittfigur. Diese Grundkonzeption als quasi erster Schritt muss freilich von weiterem formalem "Leben" ausgefüllt werden; gemäß des Meisters obligater Nomenklatur hat solches durch gezielte und kraftvolle, wenngleich sparsame Gesten zu geschehen — auch hier genügt der kurze Blick um der Komposition Erfolg zu bescheiden.
     Die also veredelnden Maßnahmen treffen wie immer vor allem den Campanile. Das Kirchenschiff als zurückhaltendes Rückgrat der Komposition besitzt kaum mehr als die mit wenig Aufwand betriebenen Dreiecksgiebel auf den Schmalseiten, sowie die ruhig rhythmisierenden Rundbogenfenster der Längsseiten. Diese Öffnungen sitzen mittig in den beiden Fassaden (vertikal betrachtet), damit den Lochfassaden-Charakter und die primär körperhafte Wirkung des Kirchenschiffs unterstreichend. Die sehr kleinen, beinahe schüchternen Rechteck-Öffnungen rechts und links der Rundbogenfenster sowie in der Frontfassade vollenden den Effekt des Baukörpers, sorgen außerdem für belebende Abwechslung.
     Dann aber der wirkliche formale Anspruch: der stämmige Kirchturm wächst steil aus dem Schiff empor. Diese entschieden vertikale und dynamische Geste — ohne "einfangende", beruhigende Gesimsbänder des Kirchenschiffs — wird auch noch bestärkt von der auffällig langen Rundbogennische der Eingangsseite. Sie birgt übereinander je zwei Halbpfeiler mit den typischen ausladenden Kapitellen, die jeweils ein mehrfach gestaffeltes Balkenwerk tragen — endend im Rundbogen, der durch zwei breite Profile noch ein Thermenfenster andeutet. Auch dieses Prinzip ist von Weinbrenner bekannt, eingeführt 1811 bei seinem zweiten Kirchenbau in Scherzheim (Lichtenau bei Rastatt, "Sammlung 1") — es impliziert die reizvolle Wirkung einer sich selbst tragenden konstruktiven Installation, die ungezwungen in die tief einschneidende Nische des Turmes eingestellt wurde. 

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Schön wie kurz darauf das (angedeutete) Thermenfenster als immer angenehme Wiederholung des Formenmotivs direkt wiederkehrt. Alsbald beschließen weit heraustretende Rundkonsolen, die umlaufende Galerie (mit filigranem Kreuz-Eisengeländer) tragend, markant den langen unteren Turmabschnitt. Es folgt standardgemäß die leicht zurückgestaffelte Spitze, das Glockengeschoss. Vier Eckpilaster, das typische Weinbrennerstil-Motiv der Turmspitzen, halten einen umlaufenden Gebälkstreifen, wobei die Pilaster-Abstände die vier rechteckigen Schallöffnungen bergen. Auf das horizontal profilierte Dachgesims über dem Gebälk folgt schlussendlich das sich ins Kirchenkreuz verjüngende, wie immer geknickte Zeltdach (wobei der Knick hier relativ spät erfolgt, nicht wie sonst üblich in unmittelbarer Traufnähe).
     Wie bei den Gotteshäusern in Scherzheim, oder auch in Zähringen (Ortsteil von Freiburg, "Sammlung 1") und Heitersheim (südlich von Freiburg, "Sammlung 2") tritt neben der Turmspitze auch die Installation der Eingangsnische als konstruktive (in einzelne Bauglieder: Pfeiler, Pilaster, Gebälk aufgelöste) Gebäudepartie in spannungsvollen Kontrast zu den klar als Baukörper konzipierten Anteilen: Kirchenschiff und unterer Turmabschnitt. Jener Gegensatz darf neben der klaren und effektvollen Durchdringungsfigur Turm-Schiff als die bedeutendste gestalterische Maßnahme des  klassizistischen Kirchenbaus in Baden gelten.
     Das ob seiner dezidierten Ungewöhnlichkeit auffälligste Detail zum Schluss: Rotsandstein-Quaderwerk auf den Ecken der Vorder- und Rückansicht. Von besonderer Bedeutung vor allem erstere, die nämlich auch den Campanile mit einbeziehen: offenkundig betonen sie die Gebäudeecken — und damit auch die vertikale Wirkrichtung. Gerade sie leisten der kraftvollen Ausstrahlung einen wichtigen Beitrag. Dabei sind diese für den Stil Weinbrenners tatsächlich sehr ungewöhnlich — hier nämlich bestanden im Grunde nur zwei Möglichkeiten: entweder die konstruktive Wirkung durch Säulen (oder durch Eckpilaster), oder aber die freigehaltene Ecke, die eine wuchtige körperhafte Wirkung (Massivität) befördert. Eine eher dekorative Lösung wie hier stand dagegen eigentlich nicht zur Disposition — sie bedeutet einen stark individualisierenden Eingriff, wie ihn sich vor allem Weinbrenner selbst regelmäßig zugestand. Jene Eckquaderung erst macht das Wössinger Gotteshaus gegenüber den vorgenannten Beispielen zu einem leicht identifizierbaren Unikat. 
     Das Motiv, es ist freilich bekannt aus den Stilepochen der Spätgotik/Renaissance (in Deutschland 15.-17. Jahrhundert) und Barock (17./18. Jahrhundert) und wurde vom Architekten für den klassizistischen Ausdruck ausgesprochen findig modifiziert. Die Steinbauten der Spätgotik/Renaissance fassten das Quaderwerk negativ (gegenüber der Fassade zurückspringend) [C], der Barockstil dagegen positiv (also hervortretend) — beides aber hätte in unserem Fall die körperhafte Wirkung von Schiff und unterem Turmabschnitt empfindlich gestört. Aber Weinbrenner/Fischer setzen sie geschickt und einfach exakt auf Putzhöhe, die Fassade läuft also auf gleicher Ebene über die Gebäudeecken — die Wirkung der reinen Baukörper wurde somit "hinübergerettet" und der kraftvoll-vertikale Ausdruck gar noch gesteigert. Das i-Tüpfelchen eines trefflichen Gesamtbildes.

Weitere interessante Informationen zur Wössinger Kirche, insbesondere zu dem zunächst gar nicht so stämmigen Campanile auf der Website der evangelischen Gemeinde Wössingen www.ekiwoe.de.


[A] Hier sei nur auf des Baumeisters eigenes und selbst entworfenes Wohnhaus in Karlsruhe hingewiesen; das heute so genannte "Haus Gothein" findet man in der "Sammlung 4".
[B] Dr. Emil Lacroix und Dr. Heinrich Niester schreiben die Kirche in ihrem Standardwerk badischer Baukunst "Kunstwanderungen in Baden" gleichfalls Weinbrenner zu: Seite 302, Auflage 1959, Chr. Belser Verlag Stuttgart.
[C] Gültig für die Renaissance in Deutschland; im Geburtsland der Renaissance, den italienischen Fürstentümern, wird das Quaderwerk bereits in der Renaissance als Positivform eingesetzt.


Quellen
1) das Bauwerk selbst - Stilmerkmale und Wirkungen; Betrachtung des Gebäudes vor Ort
2) Dr. Emil Lacroix und Dr. Heinrich Niester "Kunstwanderungen in Baden", Chr. Belser Verlag Stuttgart, Ausgabe 1959
3) Homepage
www.ekiwoe.de 
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