Baukunst in Baden
  Gengenbach
 

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Gengenbach, die Großartige! Sie thront gleichsam als eine Königin in "ihrem", seinerseits durch Anmut billig gewinnenden Tal der Kinzig. Das vortreffliche urbane Gebilde wird unter die schönsten Städte ganz Badens gezählt! Und wie jene anderen Schönheiten ihre eigene Geschichte besitzen, so weiß denn auch Gengenbach um ausgewiesene Besonderheit.
     1689. Die in Baden allgegenwärtige Zerstörungswut des Sonnenkönigs greift auch nach der freien Reichsstadt Gengenbach. Wie viele vor ihr, wie viele nach ihr sinkt sie sprichwörtlich in Schutt und Asche. Eine Katastrophe ungekannten Ausmaßes. Praktisch kein Gebäude mehr intakt, alles nur noch ein tagelang rauchender Trümmerhaufen. Ausgeplündert, ja der Existenzgrundlage beraubt. Für die Not und Verzweiflung der Menschen hat man keinen Begriff.
     Eines aber verblieb, nämlich die günstige Lage an einer wichtigen Handelsstraße. Überdies machte auch das einflussreiche Kloster Gengenbach, für die Ökonomie der Stadt von großer Bedeutung, welches zwar gleichfalls niedergebrannt, keinerlei Anstalten zur Aufgabe. So also erwuchs der Wille der Bürgerschaft, das Zertrümmerte wiederaufzurichten, ein neues Gengenbach ins Leben zu rufen.
     Jenes neue Gengenbach, es steht in weiten Teilen noch heute vor Augen, darf also eingehende Betrachtung einfordern. Die Bürgerschaft ging ihren Weg, eben jenen Weg, der sich neben der Schönheit des ganzen um die oben eingeführte Besonderheit verdient machte.
     Der Wiederaufbau vollzog sich vor allem in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts, also in den Tagen des allenthalben siegreichen Barock-Stiles. Dergleichen galt auch in Gengenbach, freilich nur in Maßen. Die Bewohner nämlich hatten neben dem Neuen auch das Alte nicht vergessen. Und das Alte, das war der Fachwerkbau. So entstanden die öffentlichen Bauwerke, auch die Häuser manches Patriziers im modernen Stil, das Gros aber, indessen zeitgemäß modifiziert, in Gestalt des Fachwerkbaus.
     Jener Grundzug des Wiederaufbaus reizt natürlich zur Vergleichung mit den anderen Schönheiten Badens. Auch die beiden ergreifendsten Städte, nämlich Heidelberg und Baden-Baden wurden im Pfälzischen Erbfolgekrieg zerstört und mussten neu erstehen. Heidelberg nun, als Hauptstadt der mächtigen Kurpfalz ohnehin fortschrittlich genug, schlüpfte konsequent wie selbstverständlich in das moderne Gewand des Barock. Baden-Baden dagegen dämmerte zunächst traurige 100 Jahre, erstand erst im 19. Jahrhundert wieder zu wirklichem Leben, dasselbe dann per Klassizismus, Romantizismus und Historismus in das uns geläufige Bild überführend.

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Gengenbach also reichlich verschieden. Und doch mit Parallelen, die nicht von der Hand zu weisen, nämlich mit Städten wie Wertheim, Weinheim und Ladenburg — den Städten also, welche gleichfalls von großer Attraktion, jedoch mit dem großen Unterschied jenem schauderlichen Vernichtungswerk des ausgehenden 17. Jahrhunderts glücklich entgangen zu sein. Wie nun jene Städte einfach ihr Fachwerk-Erbe behielten und nur die notwendigen Neubauten im modernen Stil des Barock ausführten, so kam Gengenbach, obgleich es seinerseits alles neu errichten musste exakt zur gleichen Mischung, zum entsprechenden Stadtbild, zu einer Schönheit, die noch reichlich Mittelalter atmet. Das das Besondere Gengenbachs — man sieht der Stadt nicht an, dass sie 1689 vollkommen zerstört.
     Damals spätestens ward ein außergewöhnlicher Geist gefunden. Man lies die neue Zeit wohl ein, jedoch nicht ohne auf die alten Qualitäten zu pochen. Und jener Geist, auch das unüblich genug, er pflanzte sich ungetrübt fort. Und wie er sich selbst bestätigte, so verifizierte er auch die Richtigkeit aus den Tagen des Wiederaufbaus.
     Zweierlei zumindest muss angeführt werden. Zunächst: als in der Mitte des 19. Jahrhunderts allerorten die Stadttore und Türme für wertlos erachtet dem Abriss preisgegeben, ohne zu beachten wie wertvoll, weil identitätsstiftend (und die Vergangenheit abbildend), da verweigerten sich die Gengenbacher in kaum gebrochener Konsequenz. Freilich waren sie keine Hinterwäldler, wie manch Skeptiker hier wohl einwerfen möchte, die Enge der mittelalterlichen Stadt nämlich, empfanden sie wie alle anderen auch. Die Gengenbacher aber begnügten sich mit der Niederlegung der Stadtmauern, brachten also die Stadt zum atmen ohne sie wie andernorts der markanten Turmsilhouette zu berauben. Und welch' Gewinn für das heutige Stadtbild, das wie nur ein zweites in Baden noch von der Lebendigkeit der mittelalterlichen Turmlandschaft profitiert, außerdem wertvollstes Zeugnis für die Klugheit des Städtebaus unserer Altvorderen ablegt. Jenes zweite Beispiel übrigens stellt Villingen, wie die vorgenannten eine der trefflichsten Städte Badens. Auch hier ward man von modernen Ideen nur insoweit beeinflusst, als man darüber nicht blind für die bestehenden Qualitäten.
     Das zweite, und hier findet man sich im Bunde wiederum mit den badischen Vorzeigestädten, man verweigerte dem Modernismus die Altstadt. Der Modernismus, die Historie verwerfend (keineswegs nur das abscheuliche Nazi-Regime, sondern in Bausch in Bogen das Gesamtbild) überrumpelte ab den 1950ern so manche gutgläubige Bürgerschaft, das historische Stadtbild und ihre Bewahrer zur Zielscheibe ihres Spottes degradierend. In Gengenbach aber stand die gesamte Altstadt schon ab 1955 unter Denkmalschutz.

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Ewiggestrig und unverbesserlich aus Sicht der Modernisten! Uns aber und unseren vom modernistischen Gebaue gepeinigten, ja vielmehr zu Tode gelangweilten Augen ein unschätzbarer Gewinn. Und so zieht alles für den schönen Sonntagnachmittag nicht in die Wohnsilo-Viertel oder Industriezusammenballungen, mit welchen uns die modernistischen Planer ab den 1950er Jahren zu beglücken trachten, sondern an Orte, die uns selbst wiederzuspiegeln scheinen, in Altstädte wie die Gengenbachs. Aus Sicht der heutigen, gerne mal wieder Hochhaus-züngelnden Modernistenschaft: unbelehrbar wie ehedem.
     Wir aber bleiben Mensch und fassen hier in Worte, was für gewöhnlich zwar in aller Klarheit verspürt wird, dem Laien auszusprechen aber, erst recht ob der modernistischen Luftteufelspielchen, denn doch eher schwer fällt. Wählen wir zu diesem Behufe die trefflichen Worte des Modernismus-Kritikers Brent Brolin: "Der visuelle Facettenreichtum traditioneller Bauten bedeutete, dass sich dem Betrachter, je näher er herantrat, Schritt für Schritt einzelne Schichten des Ornaments in ständig kleiner werdendem Maßstab erschlossen. Da sich fortwährend neues darbot, blieb das Auge beschäftigt und interessiert. Die ornamentlose Kahlheit moderner Architektur bereitet dem Auge selten lohnende Reize. Die modernen Bauten sind meist schon aus der Entfernung mit einem Blick zu erfassen . . . Die Masse der einförmigen Kuben, langgestreckt oder hochaufragend, und der glatten, kahlen, mit ihrer starren Abfolge alternierender Wand- und Fensterbänder, beliebig ausdehnbaren Wandflächen, ausdruckslos und ohne Individualität. Hat man einige von ihnen gesehen, hat man sie alle gesehen. Nichts reizt dazu Näherzutreten, genauer Hinzuschauen, und so schauen die meisten auch nicht mehr hin."[1] Und nun meine Wenigkeit: jene Aussage gilt, haben die Fassaden ihren modischen Glanz erst verloren (die geringen Halbwertszeiten überraschen immer wieder), für jedes(!) modernistische Gebäude. Wo sind denn die einst gefeierten Glanztaten der 50er, 60er, 70er, 80er, 90er Jahre? Niemand gewinnt ihnen noch Interesse ab. Die handvoll Ausnahmen im übrigen, leisten nichts als die Bestätigung dieser Regel.
     Jener Gengenbacher Esprit aber, in Nachfolge der Gesinnung des Wiederaufbaus, er sicherte nicht nur den vorzüglichsten Stadtprospekt, er wies auch die Richtigkeit jenes ursprünglichen Ansatzes nach. Die Stadt überwiegend wieder in Fachwerk aufzubauen folgte zwar nicht den modernen barocken Ansprüchen, ohne weiteres aber denen der Harmonie und Wohlgestalt. So hatte seinerzeit das Zeitgemäße wohl seinen Platz, jedoch nicht im Schwange uneingeschränkter Hegemonie — was denn ohnehin folgerichtig, ansonsten nämlich gilt auch das im Moment Zeitgemäße für nichts, im Schicksale nämlich von den Ansprüchen seiner zwangsläufigen Nachfolger als wertlos erachtet zu sein. Der richtige, der uns annehmende Ausdruck, die Baukunst ist als Ziel erkannt — alt und neu, traditionell und modern reichen sich darüber die Hand.

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Was nun die Schönheit der Baulichkeiten, der Stadt als solche vollendet ist ihre natürliche Umwehrung, als welche mit dem Kinzigtale eine der liebreizendsten Landschaften Badens aufführt. Gengenbach, nicht ferne dem größeren Kompagnon aus alten Reichstadt-Tagen, der Ortenau-Hauptstadt Offenburg, liegt demnach nahe genug noch am Ausgange der Kinzig in die Rheinebene. Das Tal weiß hier noch um einige Breite, weshalb die Stadt ohne Bedenklichkeiten alleine in der Ebene wuchs, den Schwierigkeiten bei Erklimmung einer Talwand noch mit relativer Leichtigkeit entweichen konnte. Bedenkt man, dass die Stadt, welche historisch freilich nicht allzu groß gebaut, zwischen der hier mitten im Tal fließenden Kinzig und der nordöstlichen Begrenzung durch Bergrücken des Schwarzwalds genügend Platz fand, so erhält man leicht einen Begriff von der Talbreite betrachteter Stelle.
     Zu Gengenbach gehört eine reizende Kapelle, die JAKOBUSKAPELLE AUF DEM BERGLE, einst Station der großen Jakobuswallfahrten nach Spanien, ein Gebäu des Jahres 1681, freilich mit Vorläufern gar bis in römisch-imperiale Tage. Von hier oben nun, um zahlreiche Meter über die Dächer der Stadt erhöht, genießt man nicht nur einen trefflichen Überblick auf die geschwungenen mittelalterlichen Straßen und Gassen, die amorphen Plätze, die Lage der besonderen Bauwerke, auch die effektvolle Turmwelt, nicht weniger nämlich gewinnt man beste Aussicht in die Tiefe des Kinzigtales und entgegengesetzt in Richtung Rheinebene, entsprechend einen guten Begriff von der Schönheit jener Landschaft, welche zumeist vom Gegensatz ebenes Tal und rasch emporsteigender Talwände profitiert.
     Steht nun die Eroberung der Stadt selbst an. Diesem Zwecke bestens geeignet, der Beginn an einem erhaltenen Stadttor, für welches sich das wie der Name richtig impliziert an der Kinzig gelegene KINZIGTOR von selbst anbietet. Vor demselben stehend hat man bereits einen ersten Höhepunkt gewonnen. Das Tor nämlich führt sogleich durch den mächtigsten der Gengenbacher Türme. Und so hat man bereits an dieser Stelle  auszuführen, dass die Stadt zwar 1689 vollständig niedergebrannt, die steinernen Partien aber, zumeist natürlich die dicken Mauern der Stadtbefestigung der Feuersbrunst mit einiger Leichtigkeit trotzten. Kurzum die Türme und Tore, zumeist zwar gleichfalls jämmerlich ausgebrannt und entkernt, blieben stehen und wurden für den Wiederaufbau natürlich erhalten. Jene Bauten nun, vom ausgewiesenen Geist der Stadt gar bis in unsere Tage gerettet (bis auf den Abgang des dritten Stadttores), sie zeigen noch die mittelalterliche Formenwelt, beflügeln dank ihrer exponierten Lage, auch dank der alles überragenden Gebäudehöhe, vielleicht noch stärker als die Fachwerkbauten den anmutigen mittelalterlichen Eindruck Gengenbachs.

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Das Kinzigtor, trutzig, wehrhaft-abweisend wie man`s von solchem Gebäu nur wünschen mag, verschmäht auch das Kunstvolle nicht, welches es freilich zu seinem Schutze auf das Dach zog, wo also vier reizende Renaissance-Erker nach allen Seiten lächeln. Das Dach in Zeltform ist hoch gebaut, bekrönt mit einer Laterne. Das Tor selbst gibt den Durchgang per gotischem Spitzbogen frei. Darüber (Außenseite) die Erinnerung an die außerordentliche Vergangenheit als freie Reichsstadt. Über dieselbe nun einige Worte zu verlieren scheint also geboten. Jener Ehrenstatus, der die Bürgerschaft nur allzu gerne dem Landesfürsten entrückte und direkt dem Kaiser unterstellte, er ward durch den Abt des Klosters Gengenbach Lambert von Brunn gewonnen. Er, in seltener Einflussfülle zugleich Bischof von Brixen, Speyer, Straßburg und Bamberg, endlich Berater von Kaiser Karl IV, konnte der Stadt (wie auch dem benachbarten Zell) im Jahre 1366 die begehrte Reichsunmittelbarkeit einheimsen. Bis 1803, dem Jahre der badischen Einverleibung, also über den beträchtlichen Zeitraum von 437 Jahren durfte sich Gengenbach freie Reichsstadt nennen.
     Hat man das Kinzigtor durchschritten gewahrt man stehenden Fußes die Wohlgestalt der Altstadt. Vom ersten Moment weg entbreitet sich jene Qualität, die wir an historischer Baukunst schätzen. Rechts und links kleinteilige Bebauung, zwei- bis dreigeschossig; die Fassaden, welche hier noch wenig Fachwerk zeigen, wohl zurückhaltend, bedacht aber auf kunstvolle Details (von Renaissance bis Klassizismus) und Ebenmaß im Fassadenaufbau. Freilich werden hier schon alle Blicke auf den in nächster Nähe wartenden MARKTPLATZ gezogen.
     Dort nun wartet vor allem der Prachtbau des 1784 ausgeführten RATHAUSES, welcher den Platz, der einfach eine Aufweitung der drei an dieser Stelle zusammentreffenden Straßen, eindeutig dominiert. Dreigeschossig, mit  reinem Walmdache und breit gelagert, behagt es sehr in seinem frühklassizistischen Gewand. Barocke Verspieltheit ist gewichen, die Ausschmückung entsprechend diszipliniert. Für die Schaufassade des Marktplatzes wurde eine Längsseite gewählt. Die offenen Arkaden des Erdgeschosses, ihre graphischen Putzrillen gefallen; genauso der Mittelrisalit, welcher einen Hauch nach vorne gerückt, seitlich mit kolossalen Pilastern ionischer Ordnung und einem Dreiecksgiebel; endlich auch die an den Gebäudeecken angebrachten Pilaster. Der Bau des Rathauses in seinerzeit modernster Formensprache war Ausdruck nicht nur des Bürgerstolzes, ebenso nämlich der nach der Zerstörung 1689 wieder erwachsenen Blütezeiten.

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Weitere ausgezeichnete Bauten umstellen den Marktplatz. Fachwerkhäuser, wie ihre zahlreichen über die Stadt verteilten Pendants stets im fränkischen Stil (der Wiederaufbau tilgte die letzten alemannischen Elemente) und gerne, wenn auch zumeist zurückhaltend, durch Schmuckformen bereichert.
     Auch die alte RATSKANZLEI kam hier zum Stehen. Eines der ersten wiedererstellten Gebäude, erbaut noch im 17. Jahrhundert, namentlich 1699. Ein vor allem deshalb interessantes Gebäu, weil es im Stile der Spätrenaissance ein seltenes Übergangswerk zum Barock. Noch der Renaissance verpflichtet findet man die Giebelstellung zur Straße, welche hier übrigens in schönem Kontrast zur sich im 18. Jahrhundert durchsetzenden Traufständigkeit (auch in Gengenbach). Der geschweifte Giebel selbst, durch Gesimse noch horizontalisiert und allgemein die Fensterrahmungen, die noch hinter die Putzebene zurücksinken — auch sie erzählen noch von der alten Zeit. Die Profilierung jener Rahmungen dagegen und vor allem das barock geschwungene Vordach weisen auf den Barock. In seiner Gesamtheit, also auch jenseits des bauhistorischen Wertes, gewinnt der weiße Putzbau einen trefflichen Eindruck, zumeist vielleicht ob seiner Herbheit, der man die rauen Tage des Wiederaufbaus — nüchtern, wenig Schmuck, aber mit bestem Willen — förmlich ansieht.
     Auch das KAUF- UND KORNHAUS bringt eine Stilvermischung. Dieselbe aber durch einen sich dem Stadtbrand widersetzenden Renaissance-Anteil, ein prächtiges Portal, welches dem barocken Wiederaufbau willkommener Gebäudeschmuck. Fensterrahmungen und Mansarddach eindeutig barock. Lustig die zwei Kellereingänge rechts und links des Portales.
     Freilich, steht man am Marktplatz, so üben zwei andere Bauwerke wiederum große Anziehungskraft aus, reizen zur Weitererkundung beinahe magisch an. Darin nun erblickt man den reizvollsten Grundzug der Altstadt. Kaum nämlich hat man ein schönes Gebäude, einen faszinierenden Straßenzug gewonnen, so erblickt man sogleich ein Gebäu, das die Neugier dergestalt erregt, dass man das gerade erst gefundene kaum mehr als oberflächlich abtasten will. Weil denn häufig genug gleich mehrere Gebäude locken, kann man sich in der Tat, zumindest im ersten Moment, kaum zu tiefgehender Betrachtung disziplinieren. Schwierig genug auch die Entscheidung, welches Bauwerk man als nächstes ansteuern soll — und so kann es durchaus passieren, dass man gleich einem Stückchen Eisen, das hin und her geworfen zwischen den Magneten. Darüber mögen einem die Sinne schwirren, alleine nur deshalb weil spätestens jetzt die bedeutende Schönheit des historischen Gengenbach offenkundig wird.

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Jene angedeuteten zwei Bauwerke gehören zur alten Stadtbefestigung. Das erste erhebt sich in Richtung Westen gar wirkungsvoll über die Dächerder auch hier zwei- bis dreigeschossigen Bürgerhäuser. Es ist der NIGGELTURM und seines Zeichens nichts geringeres als der schönste badische Wehrturm. Bauten dieser Art, zunächst immer trutzig und abweisend, nahmen hier und da durchaus Anlass auch zur Anbringung von Schmuckelementen. Alleine dass ein Wehrturm am Ende vor allem dem kunstvollen Ausdruck verpflichtet ward ist ausgemachte Seltenheit und deutet auf eine selbstbewusste wie vermögende Bürgerschaft. So der Niggelturm. Der Unterbau stammt noch aus dem 14. Jahrhundert, der achteckige Aufsatz und der Umgang mit reizvollster gotischer Umwehrung dagegen ergänzten zwei Jahrhunderte später. Wohl hat das Gebäu seine Bulligkeit nicht verloren, der Aufsatz aber wurde mit einer Sorgfalt bedacht, die eher an die Spitze eines Kirchturmes gemahnt. Das überhaupt bringt den entscheidenden Effekt, jene sich eigentlich widersprechende Verbindung — Wucht und kunstvolle Ausbildung. Der Niggelturm übrigens, auch das merkwürdig genug, stand als ein Wachturm innerhalb der Stadtmauern (das vortreffliche Stadtmodell einer Ausstellung im Kinzigtor bezieht ich allerdings mit ein; so besitzt man hier wohl widersprüchliche Quellen) — und er wurde wohl noch im 19. Jahrhundert ganz umbaut, so dass man ihn in seiner ganzen Länge nicht mehr erfassen kann. Das ganze nimmt sich den lustigen Eindruck, als sei ein Riese von Zwergen nicht nur ganz umzingelt sondern förmlich gefangen gesetzt.
     Das zweite Befestigungsstück, an Reiz nirgendwo zurückstehend, wirkt gar noch anziehender. Das sogenannte OBERTURM nämlich, der zweite Torturm der Stadt, etwas niedriger und weniger mächtig als das Kinzigtor, lässt die zum Zwecke des Marktplatzes entstandene Raumaufweitung wie einen Trichter spitz auf sich zulaufen. Ein wirkungsvolles Raumspiel, das kaum von größerer Sogkraft sein könnte — ehe man sich's versieht läuft man Richtung Norden auf das monumentale, mit hohem Zeltdach gedeckte Gebäu zu.
     Ungefähr auf halber Strecke aber wieder so eine Situation, die zerreißen will. Aus Osten biegt eine Straße ein, an deren Ende das reizvolle alte Kloster steht, sich aus dieser Perspektive auch noch durch ein förmliches Wunderwerk eines barocken Kirchturmes präsentiert. Was nun dem Obertor die raue Monumentalität und räumliche Anziehungskraft macht jener Turm durch übergroße Schönheit leicht wett. Und ohne festesten Vorsatz doch das Obertor zu erreichen würde man sogleich vor das Kloster gespült.

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Der Torturm gewinnt durch seinen wehrhaften Ausdruck, welcher neben der wenigen Öffnungen evoziert vor allem durch das Quaderwerk der vier Gebäudeecken. Das hohe Zeltdach steht in guter Proportion zum Baukörper, welcher seinerseits zumeist vom stadtseitigen Vorbau profitiert. Was nun den Reiz vollendet, weil es ein Verfremdungseffekt, ist die merkwürdige Begebenheit, dass man nach Durchschreitung des rundbogigen Tores sogleich wieder auf alte Fachwerkhäuser trifft, was der Situation den Anschein verleiht, als stünde besagtes Tor nicht etwa wie üblicherweise benötigt am Ausgange der Stadt sondern mitten in derselben. Des Rätsels einfache Lösung aber bietet der Umstand einer Vorstadt, die sich hier an die Stadtmauer lehnt und gleichfalls noch im 18. Jahrhundert der mittelalterlichen Bauweise zusagte. Die Stadtmauer übrigens, welche über weite Strecken der Stadt abgetragen, hier findet man sie noch so gut in Schuss, dass sie auch einem Wehrturm das Überleben sicherte. Der schlanke Rundbau, zur Stadt ganz geöffnet, trägt  den Namen SCHWEDENTURM und erinnert damit an das Drangsal des 30jährigen Krieges, an 1643, als die Truppen des Bernhard von Weimar (Bündnispartner der Schweden und Frankreichs) die arme katholische Stadt gleich mehrfach plünderten.
     Auch der Schwedenturm verführte schon wieder, denn eigentlich wollte man das Obertor ja nur kurz besehen um sich sogleich das Kloster einzuverleiben. Geht man also den Weg einfach zurückt, schließlich durch jene schon angezeigte Straße, so wird das Auge von einem Prospekt aufgeregt, wie er schöner kaum sein könnte, ja man findet sich vor einer der ergreifendsten Schauseiten Badens wieder, dem "Konglomerat" der alten Abtei Gengenbach.
     Sie, als BENEDIKTINERABTEI bereits um 725 durch den Missionsbischof und Heiligen Pirmin, der auch das Kloster Reichenau gründete und in der Abtei Schuttern „aufräumte", ins Leben gerufen, war gleichsam auch Grundstein der Stadtgründung. Alsbald nämlich entstand um das Kloster herum eine Ansiedlung. Die Abtei Gengenbach zählt mit diesem frühen Beginn zu den ältesten, auch einflussreichsten ihrer Art auf dem Territorium des mit dem 19. Jahrhundert um sich greifenden Großherzogtums, das freilich reichlich ungeschickt nichts besseres zu tun hatte als die über 1000jährige Tradition frech abzuschneiden.
     Zum großen Glücke der Anlage fanden sich immer geeignete Nutzer, welche dieselbe im Gegensatz zu vielen anderen Beispielen zu erhalten vermochten. Und so findet man ein lustiges Konglomerat von einem Werte, der kaum zu überschätzen und die beste Ansicht desselben von der nun eingenommenen Position. Linker Hand die Eingangsseite einer romanischen Basilika und rechts daran anschließend der Konventbau im Stile der Spätrenaissance, dazwischen aber und das durchaus mit einiger formaler Gewalt ward der barocke Kirchturm „reingezwängt". Beinahe nimmt es den Anschein als seien die Gebäude durch eine wenig kompromissbereite Hand schlicht zusammengeschoben worden, woraus von selbst der Eindruck eines Konglomerates, eines Geschiebes aus verschiedensten Materialien — hier eben der Stile — ganz billig erwuchs. So diesem Prospekt auch die Harmonie abgeht, ergreift uns doch der Effekt der Sensation, die eine solche Zusammenballung selbstverständlich bedeutet.

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Schreiten wir die drei Partien eine nach der anderen ab. Zunächst also die Basilika, gleichzeitig die STADTKIRCHE SANKT MARIEN, welche im nur noch seltenen Stil der Romanik und dabei von Ausdehnung und geschicktem Formenumgang, dass sie zweifellos unter den schönsten Badens. Zwar ist die Eingangsfassade jämmerlich vom barocken Turme durchschnitten. Alleine darüber werden die Sinne nur umso mehr angespannt und empfänglich für die Ruhe und Gediegenheit der langen Längsfassade (Außenseite) und der Baukörper-verliebten Rückseite. Zwar fand man in den vielen Jahrhunderten nach ihrer Erbauung (erste Hälfte des 12. Jahrhunderts) reichlich Gelegenheit zur Beimischung nachfolgender Baustile, dennoch aber blieb der Eindruck einer hochromanischen Basilika im Gesamtaufbau wie im Detail bestens erhalten. Mit einiger Trauer freilich vernimmt man den Abgang der beiden Türme auf der Westseite, welche wie die Stadt 1689 in Trümmer fielen. Der Grundriss der Kirche übrigens wurde streng nach dem seinerzeit um sich greifenden Hirsauer Baustil (die Abtei Hirsau ist ja auch nicht allzu ferne), dem entsprechenden quadratischen Schematismus  angelegt.
     Für den Wiederaufbau des Klosters wie auch der Basilika wurde kein geringerer als Franz Beer gewonnen, einer der ganz großen der berühmten Vorarlberger Bauschule, welche herrschte in ganz Süddeutschland. Und fürwahr dem Kirchturme sieht man`s billig an, ein veritables Meisterwerk, einer der gelungensten nicht nur in Baden. Der CAMPANILE, viergeschossig und überaus schmuckreich gefällt am meisten dank seiner Spitze. Diese nämlich erweitert die quadratische Form des Unterbaus um vier weitere Ecken, welche allesamt geziert von feinsten korinthischen Säulen. Da nun jenes "Fast-Rund" auch noch deutlich zurückweicht, darüber umso leichter wirkt, und damit die Ecken des Unterbaus freigibt, welche durch hohe Steinvasen geschickt nicht nur verlängert sondern in der Höhe gleichsam aufgelöst, ergibt sich ein ergötzliches, sich verjüngendes Spiel, welches komplettiert durch die hohe Dachkonstruktion mit Laterne, dem Anliegen das Barock nach ungezügelter Formenlust nur allzu leicht gerecht ward.
     Deutlich nüchterner, dem Kirchenbau als dem Hauptteile der Abtei ganz selbstverständlich den Vortritt lassend, der in Winkelform sich anschließende KONVENTBAU. Ausgeführt wurde der weiße Putzbau mit den Mitteln später Renaissance, dabei die zahlreichen Fenster beinahe kasernenartig ums dreistöckige Gebäude führend. Blickfang einzig die Portale und die beiden Giebel der Vorderseite. Letztere nun sind von einem Aussehen, dass sie eine Verwandtschaft zur bereits vorgestellten Ratskanzlei nimmer verhehlen können, gleichen sie einander doch, abgesehen von der Anordnung der Öffnungen, beinahe wie ein Ei dem anderen. So ist man gewillt die der Abtei an Bedeutung ja nachstehende Ratskanzlei als eine Art Ableger zu sehen, welche die durch den Wiederaufbau des Klosters sich ergebenden Möglichkeiten zu nutzen wusste.

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Was den großen Reiz des Gebildes vollendet findet man auf der Rückseite in Gestalt eines Garten und der hier erneut gut erhaltenen Stadtmauer, welche dank bürgerlicher Liebhaberei der 1990er gar in einem Teilstück wieder mit einem originalgetreuen WEHRGANG versehen und damit umso stärker unser Lob verdient. Gengenbach, wie dargelegt mit gewissem Einfluss und den damit einhergehenden Mitteln konnte sich zur Verteidigung immerhin einen zweifachen Befestigungsring leisten. Dieser aber blieb dennoch seiner mittelalterlichen Beschränkung verhaftet, weil jene Mittel schließlich doch nicht ausreichten für den nächsten Schritt, den Schritt hin zur mit Schanzen und Bastionen umwehrten Befestigung, wie sie ab dem 17. Jahrhundert Stand der Technik. Als nun jenes brandschatzende 17. Jahrhundert aggressiv und erobernd in das Kinzigtal eindrang, hatte die arme Stadt nur wenig entgegenzusetzen. Der endliche Ausgang ist bekannt.
     Einem scheinbaren inneren Gesetze folgend blieb dem Abschnitt am ehemaligen Kloster wie jenem zweiten Stadtmauer-Überbleibsel am Obertor ein Wehrturm erhalten. Auch dieser mit einem Ehrennamen versehen, bekannt als der PRÄLATENTURM. Auch dieser Name nicht ohne Grund, 1750 nämlich lies sich Abt Benedikt Rischer das Rondell zu einem vorzüglichen Gartenhaus umbauen.
     Es verlohnt sich ohne weiteres von hier aus die sämtlichen noch nicht umrissenen Gassen und Wege Alt-Gengenbachs zu erobern, alleine für eine Beschreibung derselben bedürfte man endgültig eines Übermaßes. So beschränke ich mich, dabei auch den Abschluss dieses Vortrages versprechend, auf eine einzige Gasse, welche zu beschreiben man nämlich geradezu genötigt.
     Wahrlich, ein Name ward selten besser gefunden: die ENGELGASSE. Der Gassenraum nämlich kann leicht für einen himmlischen genommen werden. Von einiger Länge, in leichtem Schwung, zeigt er durchgehend zweistöckige Fachwerkhäuser und das von solch unübertrefflichem Anmute, dass am Ende billig bezweifelt werden kann, es könne irgendwo sonst auf unserer kleinen Welt eine schönere Fachwerkgasse geben. Das sind gewiss außerordentliche Worte, welche man kaum glauben möchte, gesprochen aber, wie jeder, der die Engelgasse selbst durchschwebt, zweifellos bestätigt, mit ernstem Anspruche auf Gültigkeit. Einer Gültigkeit, welche, denke ich zum Beispiel an das wunderbare Strasbourg, das über eine Anzahl vortrefflicher Fachwerk-Gassen verfügt, gleichwertige Exempel denn gelten lässt.

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Gengenbach nun — und wie wir gesehen haben — vollgestopft mit Sehenswürdigkeiten, findet in der Engelgasse den ultimativen Höhepunkt. Dieses ist umso erstaunlicher als die Gebäude den Schmuck zwar nicht verschmähen, unter dem Strich aber durchaus von zurückhaltender Machart sind. Was in der Engelgasse ergreift ist das Zusammenspiel der feingliedrigen, das Auge auf natürlichste Weise beschäftigende Fachwerkkonstruktion mit dem räumlichen Erlebnis der Gasse, welches zutiefst geprägt vom weit ausgreifenden Überhang der Obergeschosse. Darüber entbreitet sich ein Gefühl der Annahme, ja der Heimeligkeit, wie es nur entstehen kann, wenn das Gegenüber unser Inneres gleichsam als Spiegel wider gibt, wenn wir erkennen, dass das Äußere von einer Struktur, ja einer Natürlichkeit, die auch unserem inneren Wesen entspricht. Wer in diesen Raum eindringt fühlt sich, nach Überwindung eines zwangsläufigen, auch Zeiten in Anspruch nehmenden Staunens, binnen kürzester Zeit angenommen.
     Die Engelgasse, im Grunde einfach wie nur was, nicht einmal des besonderen Esprits eines Baumeisters bedürfend, gehört zu den Glanzstücken badischer Baulichkeiten. Ja selbst wenn Gengenbach das mieseste Loch wäre, nichts vorzuzeigen hätte als die Engelgasse, so wäre die Stadt allein ob jenes himmlischen Weges zu einer Besichtigung entschieden ausgewiesen.
     Wie es nun meiner Beschreibung der Stadt leicht erging, passiert es wohl auch manchem Touristen. Die ST. MARTINSKIRCHE rückt ganz an den Schluss, ja wäre um Haaresbreite unter den Tisch gefallen. Das aus dem wohl nachvollziehbaren Grunde, dass die Kirche, die bis zur Auflösung des Klosters eigentliche Pfarrkirche der Stadt, zusammen mit dem Friedhof erstaunlich weit außerhalb der ehemaligen Stadtmauern liegt. Das Gebäu aus der Mitte des 15. Jahrhunderts zeigt eine zurückhaltende, freilich schön anzusehende landgotische Machart, welche durch ein hohes, einschiffiges Langhaus und einen auf der Rückseite angeordneten Kirchturm beglückt.
     Ist man genötigt man für den Abschluss der Stadtbesichtigung einen Ratschlag zu erteilen, so kann dafür nur die eingangs schon erwähnte Jakobuskapelle in Frage kommen. Wie nämlich ihr erhöhter Standpunkt von großem Nutzen für einen ersten Überblick auf die Stadt, so nicht weniger am Schluss, um nun die im Zuge des Rundgangs aufgesammelten Besonderheiten im richtigen Zusammenhang wiederzufinden. Die Sinne, von der Dichte der ausgezeichneten Bauwerke ohnehin angespannt genug, können hier außerdem und umso leichter durch die Zuhilfenahme der lieben Kapelle wieder zu Kräften kommen.
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[1] Brent C. Brolin : Das Versagen der modernen Architektur, Ullstein Sachbuch 1976, S. 37

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Quellen
1) die Bauwerke selbst - Stilmerkmale; Stadt und Landschaft
2) Dr. Emil Lacroix und Dr. Heinrich Niester  "Kunstwanderungen in Baden", Chr. Belser Verlag Stuttgart, Ausgabe 1959
3) Website  www.stadt-gengenbach.de
4) örtliche Informationstafeln


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