Baukunst in Baden
  Abschnitt 5
 

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Sieg der Wissenschaft: Mathematik als Gestaltungsgrundlage? ... Nachdem aber die Geschütze in Verdun endlich schwiegen, der Erste Weltkrieg millionenfach getötet hatte, da entstand in Deutschland zumindest vordergründig etwas ganz Anderes. Die wilhelminische Lebensart musste verschwinden, mit ihnen auch der badische Großherzog und alle anderen Monarchen Deutschlands; wie denn auch der Gewaltkapitalismus manch’ Zügel angelegt bekam. Der Industriearbeiter wurde nun besser gestellt. Alles das bildete sich nach dem Ersten Weltkrieg auch an Mannheim ab. Vor allem wuchs die Stadt weiter; verirrte sich auch schon der eine oder andere "moderne" Bau im Stil der 1920er nach der Innenstadt. Die Prospekte der Innenstadt veränderten sich indessen kaum. Es blieb bei der Mischung Barock für die öffentlichen Bauten - Historismus für die Stadthäuser. Mannheim blieb ohne weiteres ansehnlich, Verzerrungen hin, Überspitzungen her.
Dann aber der Kriegswahn des Nationalsozialismus und die Vergeltung der Alliierten. Und freilich stand da Mannheim ganz oben auf der Liste der Angriffsziele, als der Luftkrieg über Deutschland begann, als zu zermürbende Großstadt und als wichtiger Industriestandort. Mannheim ging unter!
Keine andere Stadt Badens musste solch’ gewaltige Zerstörung leiden! Auch die anderen größeren Städte büßten: Karlsruhe, Freiburg - und das arme Pforzheim ward nahezu ausgelöscht. Am meisten aber ging in Mannheim unter, schlicht weil es hier am meisten zu zerstören gab. Im 30jährigen Krieg und im Pfälzischen Erbfolgekrieg 1689 fand man Mannheim bereits zweimal ausgelöscht - und nun von 1942-45 das dritte Mal!

Als der Nazi-Wahn endlich ausgetrieben, fand man in Mannheim die unheimlichste Trümmerwüste. Vor allem im Stadtkern, in der barocken Quadrateanlage standen nur noch sehr wenige Gebäude unversehrt. Auch die barocken Werke aus kurfürstlicher Zeit hatten böse gelitten.
Wer oben Trauer empfunden haben mag über den enormen Bedeutungsverlust Mannheims in der Wende 18./19. Jahrhundert, der darf nun gar die eine oder andere Träne vergießen! Die Stadt musste ab den 1950ern wiedererstehen - und das wäre ja wie nach den Untergängen im 17. Jahrhundert ohne weiteres angegangen - hätte da ein Baustil zur Verfügung gestanden, der wie alle anderen Baustile zuvor neben der Funktionalität auch um Ästhetik, um die eigentliche Baukunst bemüht gewesen. Aber die seit Jahrtausenden gültigen Regeln der Baukunst, Regeln, die die Fassaden dem betrachtenden Auge erst annehmbar machen, die waren nun ausgetrieben! Seit den 1920ern galt dieses Regelwerk als ein Relikt, als historischer Ballast, der zweifelsfrei zu tilgen sei. Die saubere Abbildung der Gebäudefunktionen, kurzum "Funktionalismus", sollte jenes Regelwerk, die "Baukunst", gleichsam als Zauberwort ablösen, mit harschen Worten, im revolutionären Stil der Zeit eingefordert. Viel wurde seinerzeit und bis heute von (angeblich) neuen Wahrheiten geredet: Wahrheit der Konstruktion, Wahrheit des Materials und natürlich die Wahrheit von Form und Funktion. Die so erfolgreichen Initiatoren, die Funktionalisten der frühen 1920er waren tatsächlich der Überzeugung, dass sauber abgebildete Funktionen ganz automatisch ansehnliche Fassaden bewirken würden. Wozu also noch das alte Regelwerk, dessen Ergebnisse obendrein im ständigen "Ruch" eines "schmalzigen Fassadenkitsches"?

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Tatsächlich, die seit Jahrtausenden gültigen Regeln der Baukunst, die bis dato die Funktionalität in betrachtenswerte Gebäudeansichten überführt hatten, sie wurden mit erstaunlicher Konsequenz aus der Welt geschafft! Das aber konnte nur in Einklang mit einem übermächtigen Zeitgeist vollbracht werden! Und in der Tat: der Sieg der Wissenschaft trieb vielerlei Blüten. Mehr und mehr galt nur noch das als real existierend (nicht nur gedanklich existierend), was auch mit den Mitteln der Wissenschaft nachweisbar. Der Nachdenkliche bemerkt die Grobschlächtigkeit, der immer krude herrschende Zeitgeist aber hat bis heute seinen Geschmack daran. Wie aber weist man mit wissenschaftlichen Mitteln den Wert von Kunst nach? Und noch ärger: wie weist man Bewusstsein nach? Und am allerärgsten: wie beweist man Gott?
Und so hatten alle drei sich zu verabschieden (am unbemerktesten interessanterweise das zweite). Und so steht man heutigentags in einer Gesellschaft, die wohl allenthalben Unbehagen und Entfremdung fühlt, dessen das Bewusstsein aber ersetzende Oberflächlichkeit zu keiner Wurzel mehr heranreicht. Und so steht man heutigentags auch in der direkten baulichen Abbildung dieser Verhältnisse. Das kann man leicht in den riesigen Ansiedlungsperipherien ab den 1950ern - und das kann man in Innenstädten, die der Zweite Weltkrieg hinweggefegt hat, also auch in Mannheim.
Viel redet man zumindest in Baden über Mannheim, die Bedeutung dieser Großstadt bringt das einfach mit sich. Selten genug aber bringt man dabei Mannheim mit dem Prädikat "schön" in Verbindung. Vielmehr: was hier gewaltig ins Gesicht schlägt ist eine geradezu erstaunliche Hässlichkeit der Verhältnisse, das Sterile und das Langweilige. Das aber ist der Stil der Moderne, der sich hier in aller Klarheit lesen lässt. Es ist ein Stil, der von allem Anfang um rhetorische Beigaben zu seinen Bauwerken bemüht. Denn das spürte man gleichfalls von allem Anfang, dass die oben verkauften "Wahrheiten" zumindest dahingehend zu relativieren, dass die abgebildete Funktionalität keinesfalls automatisch Schönheit erwirkt! Wie denn auch dieser Stil von dem Prädikat "schön" überhaupt nichts wissen will - und wer wollte solches auch eingestehen? Nein, die Funktionalität wird in "zeitgemäßer Ästhetik" überreicht - das muss reichen. Ansehnlichkeit als Imperativ!
Nun wurschtelt der Modernismus aber schon fast hundert Jahre, in Mannheim in den verschiedensten Stilausblühungen auch schon 60 Jahre. Und freilich tritt jede neue Planer-Generation im Brusttone neuer Versprechen auf. Alle 10 Jahre eine neue "Brave New World"; wie es denn im Moment vor allem auf den Glanz des Spektakulären ankommt. Und tatsächlich, man überdeckt von Generation zu Generation verblüffend erfolgreich, dass Ansehnlichkeit mehr sein muss als nur ein Imperativ! Indessen aber stehen die Konzepte der 1950er bis 1990er zur freien Ansicht auf Mannheims Quadratestadtgrundriss, also auch noch säuberlichst aneinandergereiht. Und es verschlägt einem den Atem!

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Das Sterile und Langweilige, ja das Banale kommt auf dem speziellen Stadtgrundriss Mannheims allerbestens zur Geltung. Riesige Gebäudevolumen haben die kleinteilige Blockbebauung oft genug ersetzt. Und obgleich diese hunderte von Quadratmetern Fassadenfläche besitzen, zeigen sie dennoch weniger unterscheidbare Details als das einfachste und kleinste barocke Bürgerhaus des 18. Jahrhunderts! Mit einer handvoll - auch noch unansehnlicher - Details, sich aber endlos wiederholender Details werden riesige Flächen bedacht, als sei die Monotonie kein Schaden. Alleine mathematische Strukturierung zeichnet, und sie zeichnet unter unablässiger Wiederholung!
In diesen Fällen erinnert sich der Autor gerne der Worte Albert Einsteins. Als er gefragt, ob sich alles auf eine wissenschaftliche Weise abbilden ließe, kam er zur Antwort: "Ja, das ist denkbar, aber es hätte doch keinen Sinn. Es wäre eine Abbildung mit unadäquaten Mitteln, so als ob man eine Beethoven-Symphonie als Luftdruckkurve darstellte." [1]. In diesem Sinne auch die Bauten des Modernismus (nicht nur Mannheims): alle Gestalt des Lebens ist restlos getilgt; alleine eine mathematische Abbildung durfte bleiben, eine Abbildung gleich einer Abstraktion historischer Baukunst - und das dann immer noch ins "Unendliche" aufgebläht. Auch die Fassaden der barocken Vorzeigewerke Mannheims, auf die wir gleich näher eingehen werden, wurden im Rhythmus mathematischer Regeln entworfen; auch wenn man das bei mancher Fassadenüppigkeit kaum glauben möchte. Aber hier war die Mathematik was sie im Kunstfalle immer nur sein darf: ein Mittel zum Zweck, zum Zwecke der Rhythmisierung. Ein Mittel, das alleine im Hintergrund, und das bedeutet auch: im Unterbewusstsein des Betrachters, die Fäden ziehen darf. Im Vordergrund wirken die Kunstmotive, die von Baustil zu Baustil sich änderten, die aber immer im Nachstreben des großen Vorbildes der Natur um Harmonie bemüht, eine Harmonie, die denn nach außen Schönheit zeugt.

All dies wurde in der allgemeinen Experimentierfreude der 1920er einfach fortgeworfen. Und hernach bekam man es, weil wissenschaftlich nicht beweisbar (siehe oben), nicht wieder zurück in den Formenkanon. Seither wirkt denn die Mathematik ganz offen im Vordergrund - so streng, dass sie nicht einmal die roheste Monotonie fürchtet. Die Abstraktion des Bauens, auch solches Kuriosum erbrachte uns das 20. Jahrhundert!
Und als ein besonderer Schicksalsschlag traf der Modernismus auf den Quadrategrundriss Mannheims; das wurde schon angedeutet. Auf die Rationalität des Erschließungssystems waren die beiden Kurfürsten, die die Stadt als Capitale nutzten, nicht zu unrecht stolz. Und Goethe verifizierte durch sein "heiter". Bei gelinden Gebäudehöhe - der Kleinteiligkeit der Bebauung - bei Fassaden, die selbst bei größter Zurückhaltung um kunstvolle Details bemüht - und endlich bei herausragenden öffentlichen Bauwerken, unterstützt auch noch von prächtigen Adelspalais, die zahlreiche Blickfänge stellten: da trat das strenge Raster durchaus in den Hintergrund, ja warb um Übersichtlichkeit im Gesamtkunstwerk des Barock. Wiederum also die klare Mathematik "nur" in der Tiefe wirksam, der Kunst hilfreich unter die Arme greifend, welche dann ihrerseits die Strenge dieser Disziplin überspielte. Ja, das gelang; das war denn unserem Goethe ein "heiter" wert.
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Und heute? Nicht das mindeste überspielt die Stringenz der Anlage. Die Rationalität des Stadtgrundrisses und die Pseudo-Rationalität der Gebäude verstärken sich sogar gegenseitig! Beide setzen sich aufs entschiedenste gegenseitig in Szene. Der verdiente wohl einen Orden, der es auf sich nähme, interessierten Auges den gesamten "Altstadtbereich" abzulaufen. Denn der wäre hernach wohl blind, zumindest aber verstummt! Nein, von den Quadraten Mannheims hat unsereins noch niemanden wohlmeinend sprechen hören. Wohl verweist unsereins dann immer auf den ursprünglichen Effekt der Stadtanlage; alleine hierfür muss man durchaus sehr geschult sein um das originäre Gebilde im Geiste wiedererstehen zu lassen.
Das eine der merkwürdigsten Folgen der Stadtzerstörung im Zweiten Weltkrieg, dass sich der ja gleich bleibende Stadtgrundriss in seiner Ausstrahlung so sehr verändert hat! Er wendet sich gleichsam gegen sich selbst. Mag man ohne weiteres auch an diesem Punkte die Fähigkeiten "moderner" Architektur abwägen!
Obgleich der barocke Stadtgrundriss also überliefert, so büsste er dennoch dergestalt seine originären Qualitäten ein, dass man ihn beinahe für abgegangen erklären möchte. Aus der baulichen Blütezeit Mannheims unter Karl Theodor verschwand also nicht nur die markante Befestigung, ja fast jedes Gebäude, überdies auch noch die städtebauliche Wirkung der Straßenanlage. Das Mannheim des frühen 21. Jahrhunderts hat kaum noch etwas gemein mit dem kurfürstlichen. Und selbst jenes wenige, hätte man es nicht unter größten Mühen und entgegen aller modernistischen Unkenrufe wiedererrichtet, selbst jenes wenige stand also in größter Gefahr.
Auch unsereins fand sich oft genug in Mannheim wieder, aus den verschiedensten Gründen. Die Schwäche der Stadtgestalt, ohnehin allgemein bekannt, war denn auch dem Autoren ein allzu leichter Begriff geworden. Vermutlich deswegen zögerte er die längst schon fällige genaue Examinierung der überlebenden (wiederhergestellten) Barockwerke hinaus. Bedenke man auch, dass in nächster Nähe Heidelberg, Ladenburg und Weinheim, dass der grandiose Schlosspark Schwetzingens nicht ferne. Da fällt einem die "Stadtabstraktion" denn umso schwerer.

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[1] Albert Einstein in: Staudinger/Schlüter "Die Glaubwürdigkeit der Offenbarung und die Krise der modernen Welt", Burg Verlag Stuttgart/Bonn, Ausgabe 1987, S. 158

[aus Beitrag "Mannheim"]

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Jahrhundertelange fluchbeladene Knechtschaft? ... Welch’ Kuriosität war da ab den 1950ern in Mosbach zu sehen: wie sich die neue Zeit, namentlich von Tag zu Tag mehr Autos durch die hoffnungslos zu enge Fachwerkstadt quälten! Selbst für die breiteste Straße, unsere "Via Triumphalis", die Hauptstraße mag man sich heute kaum mehr ausmalen wie ein friedliche Koexistenz Mensch-Maschine möglich. Der Weg lädt ob einiger Breite leicht zum Flanieren ein; wie aber Fußgänger und Automobil nebeneinander zu organisieren, ist alleine dem nicht schleierhaft, der leibhaftiger Zeuge. Sogar eine Tankstelle, Zapfsäulen, wurden hier gefunden!
Manch einer hätte die Stadt damals am liebsten abgerissen. Ja, war es überhaupt noch Glück, dass der Zweite Weltkrieg verschont hatte? Und diesmal war innerhalb der abgetragenen Stadtmauern der neuen Zeit überhaupt nicht beizukommen, wie man im 18. Jahrhundert als "Modernisierungsmaßnahme" zumindest das Fachwerk überputzen konnte. Die Rettung lag alleine jenseits der Fachwerkwelt und noch rechtzeitig ward sie erfunden: die Umgehungsstraße!
Da atmete das Fachwerk auf, noch viel mehr die Bewohner, die nun von den Abgasen befreit. Jetzt aber wurde bemerkt, dass man längst mitten in einer Operation, ja in einer Notoperation! Die Umgehungsstraße war dem Herzen der rettende Bypass - alles Andere aber lag ebenso im Sterben. Schuld zeichnete wiederum die neue Zeit.

Der Modernismus regelte nach der Klassizismus-Vergewaltigung der abscheulichen Nazi-Jahre für die neue Bundesrepublik die baulichen Angelegenheiten, in unangefochtener Hegemonie, ja ganz alleine auf weiter Flur. Diese Bewegung aber (wie sich der modernistische Stil anfangs gerne sah) trat ganz offen gegen die Baukunst ein, sie verfemend, lächerlich machend. Pseudo-Rationalität erklärte die seit Jahrtausenden gültigen Regeln für Architektur und Städtebau für null und nichtig. Der Sieg des Funktionalismus! Der hochberühmte Architekt Le Corbusier, für Jahrzehnte der führende Geist des Modernismus, ja dessen Heroe schlechthin, sprach von "jahrhundertelanger fluchbeladener Knechtschaft" [1] wenn er an Baukunst dachte.
Eine erstaunliche Formel ward aufgetan, wie sie wohl nur in den gewaltigsten Umwälzungen, die die Menschheit je gesehen, im 20. Jahrhundert möglich: "Funktionalität statt Baukunst" wurde (und wird) seither verkauft. Verfänglich genug! Verführerisch! Ja, freilich muss erst alles funktionieren, und danach darf die Schönheit ein Rolle spielen! Unsere großen Baumeister des 19. und der vorangehenden Jahrhunderte wälzen sich seither unaufhörlich in ihren Gräbern: wie entschieden würden sie widersprechen und die Verhältnisse wieder zurechtrücken! Denn die glitzernde Formel Funktionalität statt Baukunst, sie heißt in Wirklichkeit: nackte und einseitige Funktionalität statt Funktionalität plus Baukunst. Ein "Hexensabbat"! Aber der Zauber wirkt! Seither können die Baumassen ohne mindeste Vermittlung durch Baukunst in die Höhe getürmt werden. Sie stoßen ab, zumindest den allgemeinen Betrachter (nur die indoktrinierten Planer nicht). Mit dem Verweis aber auf die Funktionalität wird dann fast alles mundtot gemacht; dabei immer unterstellend (offen oder latent), dass die Bauwerke, die uns gefallen, die Fassaden, die uns anziehen statt abstoßen, kurzum dass die historische Baukunst unfunktional gewesen sei.

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Diese Unterstellung zählt selbst im 20. Jahrhundert zu den dreistesten, folgen- und erfolgreichsten Lügen! Funktionalität war durch alle Epochen hindurch eine Grundforderung der Bauherren und selbstverständlicher Anspruch der Baumeister. Nur dass jene Funktionalität immer um den Partner der zum Betrachter vermittelnden Baukunst wusste. Reißt man diesen kongenialen Partner aus dem Entwurf, bleibt in der Tat nichts als nackte Funktionalität. Die Funktionalität steht dann also offen am Tage. Und weil man sie hier ganz unverblümt (und zumeist hässlich) sehen kann, wird vom Modernismus überaus geschickt impliziert, dass Funktionalität nur dann eingelöst, wenn sie dergestalt deutlich gesehen! Geschickt! Sehr geschickt! Eine Erfolgsgeschichte sondergleichen!
Die Baukunst vermittelte die Funktionalität einst zum Auge, machte sie annehmbar, ja machte sie darüber tatsächlich zumindest teilweise unsichtbar. Und dieser Umstand wurde ihr durch den Modernismus nun zum Verhängnis!

Aber freilich braucht der Inhalt - die Funktionalität - auch im Modernismus eine Verpackung: die Fassaden. Der Modernismus hätte vielleicht recht, wenn er auf Fassaden verzichten könnte. Kann er aber nicht! Und so werden denn doch wieder wie in den Jahrtausenden zuvor Außenwände errichtet. Alles geht von statten wie zuvor, nur dass die Regeln der Baukunst den Fassaden ausgetrieben. Das ist alles was geschieht, naiv, ja banal genug. Das ist der Modernismus. Wie wichtig aber Baukunst, das beweisen dem unvoreingenommenen (dem allgemeinen) Betrachter die drückend langweiligen Fassadenflächen des 20. Jahrhunderts. Und das beweisen im Umkehrschluss die historischen Fassaden, also auch die Fassaden der Fachwerkgebäude Mosbachs.
Modernistischer Verfemung und Verdrehung der Tatsachen unterlag die Fachwerkwelt Mosbachs nichtsdestotrotz. Wieder hätten viele die Innenstadt am liebsten abgerissen, zumal die stattlichen Zeugen des späten Mittelalters teilweise schon böse vernachlässigt, am Verfallen.
Aber der Modernismus stellte sich dann selbst das Bein. Wie? Einfach indem er baute! Ja, er baute gewaltig in Mosbach. Die einst Kilometer entfernten Mosbach und Neckarelz (wie der Name schon eingibt: am Neckar - siehe Wanderungen Band ‘1’) wuchsen zu einer Bandstadt zusammen. Rings umher wucherte Mosbach wie wild über die historischen Grenzen, nach allen Richtungen; am leichtesten, weil in ebener Richtung des Elztales und nicht auf die alsbald steilen Talwände nach Norden und Süden, nach dem 1975 eingemeindeten Neckarelz. Und da konnte man ihn ganz leicht betrachten und abwägen, den Modernismus mit seinen Fähigkeiten. Und da bemerkten vor allem die eingewurzelten Bürger, dass jener Sieg der Funktionalität zugleich ein Sieg der Monotonie, der Sterilität, ungebrochener Langeweile und Phantasielosigkeit.

Der Modernismus hatte das große Versprechen einer besseren Zukunft gegeben. Aber musste die wirklich so hässlich sein? Immer öfter gingen die Blicke nach dem eigentlich Überlebten, dem eigentlich mitleidig zu Betrachtenden, ja dem zu Verachtenden; die Blicke gingen auf die nichtsdestotrotz anziehenden Fassaden der Fachwerkhäuser. Und man begann sich zu wundern. War das Versprechen etwa nur einmal mehr Gerede? Ja, dies vollmundige Versprechen ist freilich Gerede! Wie sonst kann erklärt werden, dass das Neue abstoßend unansehnlich, das Alte aber schön - und dass beide funktional. Manch’ andere Bürgerschaft ließ sich dennoch überrumpeln. Nicht aber die Mosbacher. Das städtische Bürgertum, dessen lange zurückliegende Ahne ja immerhin ein hauptstädtischer gewesen, es war noch stark genug um den falschen, den überspannten Zügen des Zeitgeistes zu trotzen. Kein X für ein U! Das "Tor zum Odenwald" schloss nun seine Altstadttore für den Modernismus. Von 1975 bis 1998 ward saniert. Und wo andernorts Sanierung gerne Abriss und pseudo-angepasster Neubau bedeutete, da legte man in Mosbach das teilweise schon Jahrhunderte überdeckte Fachwerk wieder frei. Nichts weniger als eine neue Blüte brach sich hier bahn. Und wenn auch nicht alles getan werden konnte, ja tatsächlich noch vieles freizulegen wäre, so ist er dennoch aufs neue erstanden: der spätmittelalterliche Glanz Mosbachs, der Fachwerkruhm Mosbachs!

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[1] Le Corbusier "Ausblick auf eine Architektur", Verlag Ullstein in Wien, Ausgabe 1963, S. 86

[aus Beitrag "Mosbach"]

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