Baukunst in Baden
  Abschnitt 7
 



 

Wahrheit? Halbwahrheit! ... Wo andere Städte böse überrumpelt, konnte sich Altheidelberg durchaus sehr gut behaupten. Mag die schon historisch sehr selbstbewusste Bürgerschaft (manch Kurfürst klagte sein Leid) das Luftteufelchenspiel des Modernismus sogleich als leeres Gerede aufgedeckt haben. Denn in der Altstadt konnte der Stil der neuen Zeit seine funktionalistische Gesichtslosigkeit nur an sehr wenigen Stellen verbreiten. Nur von den Rändern her, leider mit einiger Konsequenz im Osten zwischen Karlstor und Altstadt, will er gleichsam zersetzend in den Körper hineingreifen. Die weitläufigen inneren Bereiche aber ließen nur Ausnahmen zu.
Und hier kommt es zu einem regelrechten Schauspiel. Nirgendwo erscheint der "Sieg des Funktionalismus", man muss regelrecht sagen: lächerlicher als in der Altstadt Heidelbergs. Alle hehren modernistischen "Wahrheiten von Form, Konstruktion, Material und Funktion" zerbrechen als losestes Gerede an den barocken Fassaden der Nachbarn. Man reibt sich die Augen, will aus dem Staunen nicht mehr herauskommen; lange sucht man nach einem Gleichnis, wähnt sich endlich im antiken Rom bei der Vorführung kleiner schmutziger Barbaren. Wem wollte der Modernismus hier etwas vormachen? Der Scharlatan stammelte der Königin kurz etwas vor; dann ward das Zepter gesenkt und der Stil der Anti-Baukunst aus Altheidelberg verbannt.

All jene Wahrheiten von "Form, Konstruktion, Material und Funktion" sind eben nur Halbwahrheiten. Wo keine Vermittlung derselben durch Baukunst, wo keine Vermittlung zum betrachtenden Auge, da gilt billig, was Friedrich Nietzsche so prägnant ausdrückte: "Die Wahrheit ist hässlich: wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehen." [1]. Und wo jenes Zerrbild der Bauaufgabe neben das Idealbild, wo der Modernismus neben Heidelberg tritt, da wird der Gegensatz, da wird das reale Verhältnis so überdeutlich, dass man sich zuungunsten des Modernismus amüsiert, ja fast ins Lachen geraten will. Freilich bleibt einem letzteres durchaus im Halse stecken, denkt man wieder an das "draußen", wie dort der Modernismus eine Hegemonie aufgerichtet und sein Wesen von Jahr zur Jahr ganz ungebrochen forttreibt. Die Baukunst ist unterlegen, dem heutigen Bauwesen vollends getilgt, ausgetrieben wie ein böser Dämon, so erfolgreich, dass nur ein allgemein gültiger Zeitgeist dahinter stehen kann. Baukunst wird nicht mehr geschaffen, sie ist alleine als historisches Erbe noch zu verteidigen. Das aber gelang in Altheidelberg mit ganz besonderer Konsequenz, als sei die alte kurpfälzische Capitale wieder zum Bollwerk geworden.
Freilich musste auch diese Altstadt saniert werden, und das geschah ab 1972 unüblich früh. Zu diesem Zeitpunkt hatte man in den sich rasch ausbreitenden Peripherien wohl schon genug der glücklosen Gestaltungsexperimente beobachtet. Man sprach von einer "Jahrhundertaufgabe" - zurecht! Und als jene 1978 fertiggestellt, da war es dann zumindest auf viele Jahrzehnte gerettet, das Altstadtbild, das die ganze Welt staunen macht.

[1] Friedrich Nietzsche: nachgelassenes Fragment, Sommer 1888, Kritische Studienausgabe, München 1980, 13,500
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[aus Beitrag "Heidelberg"]

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Die Fähigkeit zu altern - und ein allzu williges Opfer Osterburken, ein Städtchen im Nordwesten Badens, namentlich im sogenannten Bauland, sehr nahe dem gleichfalls kleinen Adelsheim. Gehen wir gleich in die vollen: nach Pforzheim zeigt der Ort wohl die größte bauliche Absurdität Badens! Zur Erinnerung: Pforzheim besitzt die mit Abstand größte Schmuckindustrie Deutschlands, errichtete aber die vom Zweiten Weltkrieg zerstörte Innenstadt ganz im Stil des Modernismus, der für seine Fassaden bekanntlich nichts mehr verabscheut wie Schmuck. Einerseits wird also in Pforzheim auf den Wert von Schmuck gepocht, andererseits empfindet man ihn für die gebaute Lebenswelt als Freveltat!
Und Osterburken? Einerseits verkündet man mit lauter Stimme den Wert gebauter Historie, andererseits aber hat man denselben geringgeschätzt wie nur selten in Baden! Wie kommt es zu solcher Absurdität, die wieder mal dunkle Wolken über unser Geschlecht führt?
Alles begann schon im Jahre 160 nach Christi Geburt, als nämlich Osterburken wichtiger Ort des weltberühmten Limes, ausgestattet gleich mit zwei Kastellen. Rund 100 Jahre später, nach Eroberung durch die Alemannen wurden diese zerstört. Bis heute aber haben sich gut sichtbare Reste (Grundmauern, Gräben) erhalten. Im berechtigten Stolz auf solche die Historie dokumentierenden Bauwerke legten die Osterburkener (zusammen mit dem Land) ein großes Museum an, welches denn auch mit zahlreichen römischen Funden der näheren Umgebung bestückt.
Ein vorbildliches Verhalten! Die Historie wird anschaulich, gleichsam zum Leben erweckt; der Mensch vergegenwärtigt sich seine Vergangenheit - hierüber wird er recht eigentlich zum von tierischer Existenz unterscheidbaren Wesen. Osterburken also ein Hort der so wichtigen Nachvollziehbarkeit von Geschichte? Mitnichten! Alles nämlich gilt einzig der Kuriosität, der weit zurückliegenden Exotik der Antike. Ansonsten nämlich gab man herzlich wenig Wert auf die eigene Historie, auf die Historie der seit 1356 mit Stadtrechten versehenen und seinerzeit auch mainzisch gewordenen Stadt. Kriegerische Drangsäle musste auch diese kleine Stadt genugsam durchleiden. Zerstört aber ward sie ganz und gar aus eigenen Reihen, namentlich in den Jahren nach 1950, als nämlich die Altstadt erschreckend und konsequent geringgeschätzt!

Das arme Pforzheim ward vor allem ein Opfer des mit Luftangriffen gerächten Nazi-Wahnsinns. Am ehesten lässt sich die willentliche Missbilligung historischer Bausubstanz mit Sinsheim im Kraichgau vergleichen. Aber selbst dort war man nicht so konsequent wie in Osterburken. Hier nämlich wurde die gesamte Altstadt in modernistischen Allerweltsbrei verwandelt! Was trotzdem erhalten, lugt jetzt aus dem modernen Getöse, der zeitgemäßen Gesichtslosigkeit genauso kurios hervor wie die Grundmauern der römischen Kastelle aus dem Erdboden. Mit der Altstadt ging auch aller Charme; und endlich will man daran irre werden, wie solche Zerstörungswut möglich, wo man doch am liebsten alle Welt herbeirufen würde um den Wert römischer Ruinen zu schätzen. Auf seine römischen “Fetzen” gibt man sehr viel, für die Historie der Stadt aber gab man überhaupt nichts! Eine Absurdität, die am Ende milde lächeln macht.

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Was von der einst schätzenswerten Stadtansicht übrig, lässt sich mit einer “handvoll” Worte nachzeichnen. Ein runder Befestigungsturm in reizvoller Proportion und mit schönem Rundbogenfries; ein quadratischer spätmittelalterlicher Kirchturm, errichtet 1588, 1731 mit formenfreudiger Barockhaube bereichert; die alte Zehntscheuer (18. Jahrh.) aus schmucklosem, dafür wie immer ansehnlich fein- und vielgliedrigem Fachwerk, und außerdem in effektvoll schlanker Proportion; schließlich die Wendelinskapelle, ein schmuckloser Barockbau aus 1747, der aber durch sehr unübliche oktogonale Grundform auffällt.
Sage und schreibe vier nennenswerten Bauwerken beließ man also die Existenz! Warum aber nur solche Inkonsequenz? Vollende man doch sein Werk! Mein Vorschlag: ein McDonald's im Glas-Blech-Gestell statt der Wendelinskapelle - und eine Betonröhre statt dem Kirchturm, welche dann die Benzinpreise der nächsten Tankstellen verkündet, oder mit großformatigem Bildschirm 24 Stunden “Big Brother” übermittelt. Dann immerhin wäre der kulturelle Verfall vollständig inszeniert! Und vielleicht zu höchster Blüte geführt, wenn man mit neuheidnischen Tänzen die Niederbrennung der Zehntscheuer und die Sprengung des Wehrturms an einem gemütlichen verkaufsoffenen Sonntag feierte.
Einen allerletzten Wert besitzt die “Altstadt” Osterburkens. Die steril herrschende Moderne beißt sich nämlich noch an den allerletzten historischen Bauwerken die Zähne aus! Anmutig und gleichsam majestätisch erheben sich insbesondere die beiden alten Türme (Wehr- und Kirchturm) aus ihrer unfreundlichen Umgebung. Alt sind sie, ja im Vergleich zu den Nachbarn uralt - und uralt sind denn auch die steinernen, großzügig vermörtelten Bruchsteinfassaden. Das Alter aber, rührt es die Fassaden nachteilig an? Nirgendwo! Die Fassaden bedürfen keiner(!) Pflege und altern in gleicher Anmut wie die Naturwerke, wie Baum und Mensch. Das Menschenwerk also als Abbild des Naturwerkes - beeindruckend! Und die modernistischen Nachbarn? Ihr größter Feind - neben dem so schnellen Verpuffen der modischen formalen Ideen - ist der hundsgewöhnliche Luftstaub. Binnen weniger Jahren sind die jenseits des modischen Glanzes banalen Formen auch noch unansehnlich “vergilbt”. Wie weggeworfener Kunststoff, der nicht altern kann, der nur immer unansehnlicher wird.
Und wenn es auch nichts nützt, lassen wir Goethe sprechen: “Die hohen Kunstwerke sind zugleich als die höchsten Naturwerke von Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht worden.” [1]. Aha, Bauwerke sind die "Vollendung" der Natur! Ja, und sie folgen natürlichen Gesetzen! Aber genau das will man auch von unseren beiden Türmen behaupten - und in den Blech- und Betonfassaden zeitgemäßer Couleur das genaue Gegenteil vermuten! Aber freilich, wer ist Goethe?

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Und Immanuel Kant, ja wer ist Kant?: “dass unser Wohlgefallen an dem Schönen seine Wurzel in einem Vermögen hat, aufgrund des freien Spiels der Erkenntniskräfte erstens das harmonische Zusammenwirken unseres eigenen Vernunftvermögens wahrzunehmen und zweitens diese Harmonie in die empirische Welt hinein zu verlängern. Wir sehen in den Gegenständen eben die formale Einheit, die wir in uns selbst entdecken” [2]. Könnte das am Ende wahr sein, dass die “natürlichen Gesetze” Goethes auch uns selbst bestimmen? Das innere Streben nach Harmonie wird ergriffen von einer erfolgreichen Harmonie des Äußeren? Das also bedeutet Schönheit! Schönheit in Natur, im Bauwerk, im Menschen! So jedenfalls lässt sich die empfundene Anmut beim Anblick der zwei Türme begreifen - ja, und auch die spontane wie nachhaltige Ratlosigkeit in Anbetracht zeitgenössischen Bauens, sei es nun anonym-gesichtslos oder spektakulär lauthals-herausschreiend.
Aber freilich, wer ist Goethe, wer Kant? Schmuck für eine Gesellschaft, die, neben Selbstverwirklichung und viel, viel Spaß, ja auch den intellektuellen Anstrich nicht missen will. Aber ernst nehmen? Dem geht man denn auch trefflich aus dem Weg indem man sie “gute Männer im Bücherregal” sein lässt (einfach nicht mehr liest).

Einen letzten hat der Autor noch, besser zwei letzte. Und hier darf man aufatmen, denn in ihrem Fall kann nicht mit Berühmtheit gedroht werden. Nur mit intellektuellem Anspruch (sic!). Staudinger/Behler, ‘Grundprobleme menschlichen Nachdenkens’: “Der Mensch als Person empfindet ein spontanes Unbehagen, wenn er das Gefühl hat, austauschbar und verrechenbar zu sein und nur als Nummer behandelt zu werden.”[3]. Und genau mit diesem Unbehagen tritt der Betrachter von den Individuen der beiden Türme vor die austauschbaren und beliebigen Fassaden der modernistischen Hegemonie. Der Anschauende spürt, dass sie nicht in Kontinuität mit ihm, mit den “natürlichen Gesetzen”. Und er bekommt hier brühwarm aufgetischt, was ein Hauptmerkmal des Modernismus mit allem: die Anonymität. Wie Anmut und Ansehnlichkeit, die Baukunst, unter Verweis auf die alleinige Wichtigkeit von Funktionalität wegrationalisiert wurden - mit der gleichen verachtenden Kälte kann man nämlich auch den Menschen behandeln. Jeder weiß das! Und die vergilbten und banalen Fassaden beleidigen nicht nur den ästhetischen Sinn - sie transportieren auch noch die Hilflosigkeit des einzelnen Menschen vor den mannigfaltigen riesigen Apparaten, die unsere Gesellschaft formen.
Mehr lässt sich aus Osterburken nicht “herausholen”. Und hat man die Geringschätzung für das historische Stadterbe sattsam studiert, dann verspürt man vielleicht auch keine Lust mehr, den Wert römischer Ruinen auszukundschaften!

[1] Johann Wolfgang von Goethe "Italienische Reise", Insel Verlag in Frankfurt/Main und Leipzig, Auflage 1976, S. 518
[2] Scruton, Roger "Kant", Verlag Herder/Spektrum, S.122; Scruton paraphrasiert hier aus der "Kritik der Urteilskraft"
[3] Hugo Staudinger/Wolfgang Behler "Grundprobleme menschlichen Nachdenkens", Verlag Herder in Freiburg, Auflage 1984, S. 36

[aus Beitrag "Osterburken"]

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1959(!): der Modernismus "entdeckt" den Stadtplatz ... In den 1940ern war es tatsächlich der größte Vorteil nur ein Anhängsel der badischen Hauptstadt Karlsruhe zu sein. Durlach war schlicht zu unbedeutend um den vergeltenden Blick der Alliierten auf sich zu ziehen. Und diese Schonung wurde denn in den folgenden Jahrzehnten je länger desto deutlicher zum zweiten großen Vorzug der Kleinstadt. Ihre Beliebtheit nämlich stieg stetig, vornehmlich als Wohnort. Das lag, ja das liegt an der landschaftlich schönen Situierung nahe dem hier beginnenden Höhenzug des Schwarzwaldes - und nicht weniger an der Gemütlichkeit und gediegenen Schönheit der im Zweiten Weltkrieg verschonten Altstadt.
Auch das ein Markenzeichen des Modernismus. Ja, um denselben einzuschätzen, müsste man durchaus nur um diesen einzigen Aspekt wissen: nicht eine einzige vom Modernismus nach dem Zweiten Weltkrieg wiedererrichte Stadt kann sich auf urbanes Flair, auf besondere Beliebtheit berufen. Wer schwärmt schon von Mannheim, Pforzheim oder Bruchsal? Freilich gibt man den Verschonten: Heidelberg und Baden-Baden den eindeutigen Vorzug. Und von Freiburg und auch Karlsruhe lobt man alleine, was nach der Zerstörung entgegen der modernistischen Unkenrufe wiederaufgebaut ward. Offenkundig schuf der einseitig funktionalistische Städtebau keine den Menschen ansprechenden, annehmenden Strukturen. Und das nimmt auch nicht wunder, schließlich wurden die historischen Stadtgestaltungsregeln vom Modernismus in Bausch und Bogen nicht nur verworfen, sondern einem regelrechten Rufmord unterzogen.
Unter dem so trefflich klingenden Kampfgeschrei nach “Licht, Luft und Sonne”, wie er ab den 1920ern immer lauter erschallte, verbarg sich ein einziges Dauerexperiment, das von Jahrzehnt zu Jahrzehnt neue Doktrinen gebar. Bedenke man dessen Charakter auch an der eigentlich unglaublichen Begebenheit, dass die sehr einflussreiche Vereinigung der führenden modernen Planer, die CIAM (Congrès Internationaux d’Architecture Moderne, später aufgelöst) sage und schreibe erst 1959 die Anlegung von Stadtplätzen thematisierte! Bis dato war ihr dieses Thema - immerhin das wichtigste in der Stadtgeschichte Europas - ein irrelevantes Thema gewesen, galt doch die historische Stadtgestalt seit dem "großen" Le Corbusier ohnehin nur noch als Zielscheibe für Spott, als aufzuhebende Stadtgestalt, zu ersetzen alleine durch Zeilenbauten und Hochhäuser. Le Corbusier, der führende Kopf unter den modernen Planern, legte 1925 seinen berühmt-berüchtigten “Plan Voisin” vor, der das historische Paris niederreißen und in eine Hochhausstadt verwandeln wollte, wie sie steriler und eintöniger nicht gedacht werden könnte. Originalton Corbusier: “Die gekrümmte Straße ist der Weg der Esel, die gerade Straße ist der Weg des Menschen.” [1]. Bei solcher Einfalt erstaunt es natürlich nicht, dass erst 1959 der Stadtplatz “entdeckt” wurde.
Das sind die Wurzeln, die Grundlagen des Modernismus. Wundere man sich also nicht. Wundere man sich also nicht über nur noch teilweise urbane Qualitäten Karlsruhes - und wundere man sich ebenso wenig über die noch vollständigen Qualitäten der Altstadt Durlachs. Dort das nur vom barocken Stadtgrundriss gezügelte, von Doktrin zu Doktrin springende Dauerexperiment - und hier eine Stadtgestalt, die Jahrtausende währenden Regeln des Städtebaus folgte.

[1] Le Corbusier "Städtebau", Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, 1979 (im Original: Urbanisme, erschienen 1925), S. 10
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[aus Beitrag "
Durlach"]

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... Der Städtebau des Mittelalters lehrt uns die Gerade zu verschmähen! Wie angenehm doch dem Augen die gefassten, geschlossenen Stadträume. Keine Wege, die sich erst in der Perspektive verlieren; nein allenthalben werden die Straßen und Gassen gekurvt oder gekrümmt, mit engen oder weiten Radien. Man mag sich wohl mit Heinrich von Kleist am barocken Strahlenkranz Karlsruhes oder mit Goethe an Mannheims Quadraten erfreuen; alleine doch nur um bei der Rückkehr nach Eppingen von einer gewissen Phantasielosigkeit und Sterilität wieder zu genesen. Seit Immanuel Kant wissen wir: "Das Gefallen ist unmittelbar und beruht weder auf Argumentation noch auf Analyse."[1]. Und deshalb trösten wir uns, dass die Schönheit solch mittelalterlicher Stadträume mit Worten nur umständlich und nicht in Form eines echtes Beweises zu greifen. Die Rationalität, ohnehin nur ein Grobwerkzeug, unfähig Gefühl und Geist befriedigend abzubilden, darf hier also schweigen. So geben wir uns also ganz dem Gefühlten hin, und hier verweist alle Intuition - welche freilich im "Makel" der Subjektivität - auf das angenehm Bergende solcher geschlossenen Stadträume. So aufgenommen fühlt man sich denn gleich wohl aufgenommen.
... Immer wieder steht man staunend, ja irritiert vor solcher Abbruchwut des 19. Jahrhunderts, die überall in Baden die Städte ihrer turmreichen Silhouetten beraubte, auch wertvollste Stadttore nur als wiederzuverwertendes Abbruchmaterial erachtete. Aber kaum ein Verfall kommt urplötzlich, gleichsam aus dem Nichts; vielmehr beobachtet der aufmerksame Geist stets Vorzeichen. Und als dann das folgende, das 20. Jahrhundert, namentlich der Modernismus die historische Baukunst als belanglosen historischen Ballast diffamieren und damit die Jahrtausende gültigen Regeln für Architektur und Städtebau erstaunlich leicht über Bord werfen konnte, ja da hatte das 19. Jahrhundert schon beste Vorarbeit geleistet. Neben jener merkwürdigen Geringschätzung der mittelalterlichen Artefakte auch durch die fast grenzenlose Profanisierung der historischen Stile im allzu billig und erfolglos kopierenden Stil des Historismus. Als dann die intelligenten und scharfen Charaktere Le Corbusier, Walter Gropius und Mies van Rohe in den frühen 1920ern als Hauptvertreter des "Neuen Bauens" so kompromisslos und im Stil der Zeit mit revolutionärem Pathos auftraten, da hatten sie im Grunde nur noch Scherben wegzukehren. Die erstorbene Baukunst harrte einzig der offiziellen Beerdigung, welche denn in der Gestalt rein funktionalistischer Dogmen die Sargträger erkannte.
... Man hat den großen Wert der so merkwürdig verschonten Altstadt vollkommen begriffen, was denn auch für die Zukunft Aufmerksamkeit verheißt. Wir leben in der Baukunst feindlichen Zeiten, und so muss das Erhaltene immer wieder neu erstritten und gesichert werden. Alleine das Denkmalbewusstsein hat unsere historischen Zeugnisse vor dem Zugriff des Modernismus bewahrt. Letzterer hält noch heutigentags und für alle seine Zukunft die historische Baukunst nur für Ballast, der aufwendig unterhalten werden muss - um wie vieles funktionaler und kostengünstiger (und geistloser!) ist da doch angeblich immer der Neubau! Für unsere Altstädte gilt, dass sie vorerst dem “zeitgenössischen Bauen” entzogen - immerhin haben wir ja die offenkundigen Fehlleistungen des Modernismus in den Vorstädten bestens vor Augen. Doch halte man solches Arrangement nur für einen (von Seiten des Modernismus zähneknirschenden) Waffenstillstand! Es wird dem Modernismus niemals an unzähligen “Baumeistern” fehlen, die im Brusttone der Überzeugung ihre Leistungen über denen der Erschaffer der Alten Universität und des Baumannschen Hauses ansiedeln. Hinter vorgehaltener Hand gelten solche Werke wie ehedem als banaler und unfunktionaler “Kitsch“. Wie gerne würde man doch solchen “Holzquatsch” gegen saubere Glasflächen eintauschen. Wie viele modernistische Planer stünden für solch einen Schelmenstreich bereit! Die Baukunst kommt nach dem 20. Jahrhundert auch im frühen 21. weiterhin nicht aus der Hand des Architekten - sie muss vielmehr gegen dieselbe verteidigt werden; verteidigt werden von Bürgern mit Geschichtsbewusstsein und einem unverdorbenen Blick auf tatsächliche, nicht nur rhetorisch beflügelte Ästhetik.

[1] Scruton, Roger "Kant", Herder/Spektrum, S.115 (Kritik der Urteilskraft)

[aus Beitrag "Eppingen"]

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