Baukunst in Baden
  Abschnitt 6
 



 

Kurzlebiges Design statt nachhaltiger Baukunst ... Wird der runde Torbogen dann passiert, findet man sich sogleich auf der Hauptader des angenähert kreisförmigen Altstadtgrundrisses, der Kaiser-Joseph-Straße. Auch sie ward schon von den begünstigenden Zähringern angelegt, welcher ihr als Marktstraße eine für das Mittelalter ungewöhnliche Großzügigkeit angedeihen ließen. Nie wurde es der "Allee" zu eng. Keinesfalls im Mittelalter, von welchem der berühmte Kupferstich Matthäus Merians (frühes 17. Jahrhundert) zwei- bis dreigeschossige Bebauung berichtet. Auch nicht im 19. Jahrhundert, als die Gründerzeit über die Kaiser-Joseph-Straße ihre Prunksucht auch nach Altfreiburg hereintrug und die bisherige Etagenzahl leicht verdoppelte. Und auch nicht ab 1950, als der Wiederaufbau der hier fast vollständig zerstörten Häuser die neue funktionale Zeit zulassen musste. Der Maßstab nämlich, den der Historismus eingeführt, er sollte gewahrt bleiben.
Alleine diese Einschränkung galt freilich nur der Höhe, keineswegs aber den Gebäudelängen. Und so ging hier die historische Kleinteiligkeit verloren; was umso gewichtiger als die langen Fassade ja im Stil der neuen Zeit ohne mindeste ästhetische Ablenkung. Einzig von Fassadenmoden ward die nackte Funktionalität eingehüllt. Moden und Ideen, die wie alles Schnellvergängliche alsbald nicht mehr interessieren. Während aber Haare rasch wieder gewachsen oder gekürzt, die Kleidung erst im Schrank, dann im Speicher landet, stehen diese Bauwerke der überkommenen Jahrzehnte ratloser denn je an der langen, fast schnurgeraden Hauptachse Freiburgs!

Natürlich musste auch die frei herrschende Funktionalität der Neubauten irgendwie an Fassaden kommen. Weil man aber von nichts als Funktionalität erzählen wollte, deren "Wahrheiten von Form, Konstruktion und Material" in "zeitgemäßer Ästhetik" aufzutreten haben, ließ man den riesigen Fassadenflächen nur die Schnelllebigkeit von Design angedeihen. Der Modernismus redet gerne von seinen "Wahrheiten", die sich angeblich folgerichtig auf den Fassaden nachzeichnen, darüber dann zur "modernen Ästhetik" weiterschreiten. Wer sich aber solcher Indoktrination verweigert, sieht nur eine Willkür des Designs; eines obendrein immer kurzlebigen Designs. Glanz zunächst, dann aber Fragwürdigkeit, schließlich Anstoß!
Wie groß da der Unterschied des aufgetünchten Designs zur echten Baukunst! Neben dem Martinstor blieb ein einziges Gebäu des Mittelalters erhalten. Dieses einzige, der "Basler Hof", welcher nach der Zerstörung wiederaufgebaut, genügt vollkommen um die ungeheure Kluft nachzuweisen. Wer würde ernstlich vor einem der Beton-Blech-Glasklumpen der 1970/80er stehenbleiben um das Auge zu interessieren? Ja, freilich niemand! Der Basler Hof dagegen, von seiner eintönigen Umgebung noch weiter "geadelt", vermag dies mit Leichtigkeit; mit der Leichtigkeit spätmittelalterlicher Kunstgriffe, welche der ruhigen dreigeschossigen Fassade durch zwei spätgotische Erker und ein Renaissance-Portal auch das Besondere einhauchen. Das 1494-1505 errichtete und um 1600 wohl leicht veränderte Gebäu umschließt einen Hof, hat aber seine schönste Ansicht zur Kaiser-Joseph-Straße. Die beiden Staffelgiebel des traufständigen Vorderhauses fallen noch auf, ebenso die sorgfältigen und zahlreichen Fenstergewände - alles im kunstwürdigenden Geiste der Spätgotik.
Auch selten genug haben hier Gebäude der Gründerzeit überdauert. Das meiste des wenigen steht in direktem baulichen Zusammenhang mit dem Martinstor. Diese Gebäulichkeiten erregen keinen Anstoß; ja, sind die Blicke nur genügend über die modernistischen Monotonieflächen gerutscht, so möchte man sich an ihnen regelrecht ergötzen.

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... Während man dem monumentaler und monumentaler aufsprießenden Schwabentor immer näher, darf allenthalben die Kleinteiligkeit und der Abwechslungsreichtum der Bebauung bewundert werden. Man trifft hier gleichsam auf das exakte Gegenbild zur Steifheit, Glattheit und Monotonie der Kaiser-Joseph-Straße. Obgleich die meisten Fassaden hier keineswegs üppig, ließ man ihnen freilich nie weniger als das belebende Minimum kunstvoller Details angedeihen. Bedenkt man dann noch die immer differierenden Gebäudehöhen, die fast immer kurzen Hausbreiten, so mag man die Lebhaftigkeit des Straßenzuges leicht begreifen. Und man bedarf keineswegs der sezierenden Analysen des Fachmanns um als Laie ganz einhellig zu verspüren, dass diese historische Kleinteiligkeit, ihre Funktionalität den Blicken durch baukünstlerische Griffe vermittelnd, den Menschen weit besser annimmt, ja vielleicht sogar widerspiegelt - wohingegen die sterilen und kunstlosen Gebäudemassen der Kaiser-Joseph-Straße nur abstoßen, keiner Anteilnahme, ja vielleicht sogar keines Blickes wert sind; dort tritt uns gebaute Gesichtslosigkeit, Anonymität im Gewand schnell überlebten Designs entgegen, die unsere Individualität und Natürlichkeit keineswegs wiedergibt, sondern wie ein leerer Schlund aufzusaugen droht. Himmel und Hölle.
... Da mag man leicht erkennen, dass der Campanile der höchste Kirchturm ganz Badens: 115 Meter. Eine sich beinahe dem Wahnsinn zuneigende Kühnheit wagte solche Höhe alleine in Stein und Mörtel! Welch’ Mut zur Konstruktion, ja welch’ Mut unserer Altvorderen! Das seit der Aufklärung gerne belächelte Mittelalter, wie würden seine Baumeister wohl in schallendes Gelächter ausbrechen, führte man sie heutigentags auf die Kaiser-Joseph-Straße. In Grund und Boden müsste sich da die Moderne schämen! Sein Haupt nicht vor den Leistungen des Mittelalters zu neigen, statt dessen die "dunklen" Zeiten zu belächeln, zeigt eine Arroganz der neuen Zeit, die alleine ausreicht um alle unsere Probleme zu erklären.

115 Meter ward aufgetürmt, aus blanker Gottesbegeisterung, auch aus echtem Bürgerstolz! Von beidem hat die Oberflächlichkeit des 20./21. Jahrhunderts nur noch Rudimente übrig gelassen. Und die modernen Stadtbilder zeichnen den Verlust billig nach: Gleichgültigkeit und unverhohlener, unvermittelter Eigennutz!
Und 115 Meter waren denn doch keine Waghalsigkeit, sondern ein gereifter Mut. Die gewaltigen Erschütterungen in Folge der Detonationen rund um das Münster, kurzum den Zweiten Weltkrieg überstand das himmelwärts Strebende ohne größeren Schaden!

[aus Beitrag "Freiburg"]

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Geht's noch unzeitgemäßer? ... Am Ende waren für die Außenarchitektur also drei Stile versammelt. Und nur der engstirnige Purist mag deren Harmonie, welche gewirkt durch das innere Streben der drei Stile, das Streben nach Schönheit, nicht begreifen. Wie leicht ließe sich ein Roman produzieren, wollte man alleine das Äußere "Unserer Lieben Frau" genau nachzeichnen; und obendrein ein zweiter für das förmlich hereinsaugende Hauptportal mit seiner Vorhalle und dem Reichtum seiner Figurenwelt; wie denn überdies das Innere eine Endlosigkeit der benötigten Worte verheißt. Auch der Innenraum zählt zu den schönsten Deutschlands, steht ferne jeglicher Konkurrenz in Baden. Das typisch gotische Raumgefühlt, das Schluchtartige, es zog seit jeher die Gebete mit vertikaler Macht förmlich aus dem Geiste, mit "Höchstgeschwindigkeit" gen Himmel! All dies aber kann unter Verweis auf zahlreiche Literatur nur bei diesen Andeutungen bleiben.
Alleine der Hintergrund der fesselnden Schönheit des Münster soll noch beleuchtet werden. Aber der säkulare Leser sei gewarnt, es wird ihm nicht gefallen was da sogleich zu lesen!
Sei denn zu dessen Vermittlung immerhin mit einem Heroen der nachchristlichen Ära begonnen, mit Friedrich Nietzsche: "…obwohl er die Kleinheit des Menschen, die Teil der christlichen Lehre ist, mitsamt der dazugehörigen Wertordnung verabscheute, so war er sich doch der Errungenschaften vollauf bewusst, die alleine der christlichen Kultur zu verdanken waren. Man wird nie eine Kathedrale zur Verherrlichung humanistischer Werte bauen, …" [1]. Wir halten also dank Nietzsche bereits gewichtiges fest: die Schönheit eines Münsters alleine durch christlichen Glauben!
Sodann wollen wie chronologisch fortschreiten. Lassen wir zunächst Platon sprechen, noch vor seinem Schüler Aristoteles der größte Philosoph der Antike, bis heute gerne verstanden als der bedeutendste Philosoph Europas überhaupt, "Heide" wohl - aber kein Atheist: "Die Idee des Schönen ist göttlich, sie entsteht und vergeht nicht, ist ungeworden, …" [2].

Dann ein weiter Sprung in die Epoche der Aufklärung, dabei aber "nur" das ohnehin christliche Mittelalter, als die Kathedralen ja gebaut, überwindend. Immanuel Kant: "Die ästhetische Erfahrung [Erfahrung des Schönen] und die praktische Vernunft sind also lediglich zwei unterschiedliche Aspekte des Moralischen. Und nur durch die Moralität empfinden wir die Transzendenz wie auch die Immanenz Gottes." [3].
Goethe darf denn auch nicht fehlen: "Die hohen Kunstwerke sind zugleich als die höchsten Naturwerke von Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht worden. Alles Willkürliche, Eingebildete fällt zusammen, da ist Notwendigkeit, da ist Gott" [4].
Und endlich Hegel, damit die Aufklärung schon wieder hinter uns lassend: "Wenn das Heilige nie mehr verstanden wird, wie soll das Schöne als ein Abglanz des Heiligen immer noch einleuchten können? Man müsste ja im Schönen schon das Heilige durchscheinen sehen, im Ästhetischen die ewige Idee, die hinter ihm steht." [5]

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Man könnte dergleichen Beispiele noch mehrere anführen, denn das wusste im späten 19. Jahrhundert auch noch Fontane: "Glaube und wissenschaftliche Erkenntnis schließen einander nicht aus, und mit höchster Geisteskraft ist höchste Glaubenskraft durch ganze Epochen hin vereint gewesen." [6]. Das war eben tatsächlich so, dass das deutlich überwiegende Gros der herausragenden Denker bis Mitte des 19. Jahrhunderts von der Existenz Gottes überzeugt blieb (dann löste die einseitige Wissenschaft Theologie und Philosophie ab). Und wie uns nach Nietzsche Platon, Kant, Goethe und Hegel klar zu erkennen geben, steht das Schöne unmittelbar beim Göttlichen.
Mag dem Autoren darüber eine kurze Schlussfolgerung erlaubt sein. Wo am stärksten nach Gott gestrebt wurde, im umfassenden und allgemeinen Christentum des Mittelalters, da entstanden die romanischen und gotischen Kathedralen, deren Schönheit gar unvergleichlich. Je entschiedener nach Gott getrachtet - und diese Verehrung ließ man sich buchstäblich kosten, was die Ernsthaftigkeit immer am besten nachweist - da wurden die Münster und Dome immer höher, immer feingliedriger, ja auch immer kühner. Am Ende standen Werke eines gleichsamen Steinflusses gen Himmel, wie z.B. in Freiburg. Ob es nun Gott gibt, oder nicht - das Streben nach ihm, brachte Europa die (auch wortwörtlich) höchste Baukunst ein.

Dem sollte man sich auch als Atheist nicht verschließen; selbst Nietzsche wollte dieses Faktum nicht leugnen.
Und die Gegenprobe? Auch sie ist leicht möglich, ob des 20. Jahrhunderts, dem ersten nachchristlichen, dem mehr und mehr gott"freien" Jahrhundert. Wie steht es hier um die Baukunst? Sie ist schlicht und ergreifend nicht mehr existent! Die initiierenden Geister des Modernismus haben sie ganz bewusst und offen getilgt. Wie der Gottesglaube musste auch die Baukunst gehen. Statt dessen wird seither alleine auf die Einlösung der Funktionen gepocht (gerne auch, als hätte man in den Jahrhunderten zuvor nichts auf Funktionalität gegeben). Und in den letzten beiden Jahrzehnten hört man immer öfter von "zeitgemäßer Ästhetik" sprechen; aber mitnichten würde von Baukunst geredet; wie ja weiterhin das Prädikat "schön" dem Modernisten wie dem Teufel das Weihwasser. "Zeitgemäße Ästhetik" ist (angeblich) immer nur die Abbildung der inneren Funktionen, keine auf gleiche Augenhöhe zur Funktionalität tretende Baukunst. Wie denn diese "Ästhetik" auch ferne der zuvor Jahrtausende gültigen Regeln für die Gestaltung der Fassaden.
Was also sehen wir im 20., frühen 21. Jahrhundert? Ein selbstbewusstes "Weg!" von Gott und ein nicht minder selbstbewusstes "Weg!" von Schönheit für die bauliche Umwelt. Die Gegenprobe funktioniert also! Das kann zum Nachdenken anregen: der Gottesglaube wirkte Kathedralen, bekam höchste Schönheit überreicht - die Gottesferne wirkt Hochhäuser und Trabantenstädte, und Schönheit wird versagt? Gewagt, gewagt … freilich! Aber genauso steht’s vor unseren Augen! Fast ein kleiner "via" zu Gott (Thomas von Aquin).

[1] Michael Tanner (Professor für Philosophie in Oxford und Cambridge) "Nietzsche", Herder/Spektrum, S.58 (Kritik der Urteilskraft)
[2] Michael Bordt (Dozent der Philosophischen Hochschule München) "Platon", Verlag Herder/Spektrum, S.115
[3] Roger Scruton (Professor für Philosophie an der Boston University) "Kant", Herder/Spektrum, S.128 (Kritik der Urteilskraft)
[4] Johann Wolfgang von Goethe "Italienische Reise", Insel Verlag in Frankfurt/Main und Leipzig, Auflage 1976, S. 518
[5] Martin Gessmann (Professor für Philosophie an der Universität Heidelberg) "Hegel", Verlag Herder/Spektrum, S.56
[6] Theodor Fontane "Wanderungen durch die Mark Brandenburg - Band 3", Könemann 1997, S. 313
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[aus Beitrag "Freiburg"]

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Wie entsteht Schönheit? ... Mit dem Ende der Abtei, welche für die Stadt ja die Insellage bestimmt hatte, kam merkwürdigerweise auch alsbald das Ende der Insel! Der schützende Vorzug der Situierung war schon im 17. Jahrhundert, im 30jährigen Krieg nicht mehr wirksam; wie man auch 1741-45 (Österreichischer Erbfolgekrieg) und 1796 (Revolutionskriege) dem französischen Invasoren kaum noch etwas entgegenzusetzen hatte. Was aber weiterhin von bedeutendem landschaftlichem Reiz gewesen wäre - und immerhin lebte man seinerzeit schon in der Natur-verehrenden Epoche der Romantik - ward von den Bürgern selbst nur noch als mannigfaltiges Hindernis wahrgenommen. 1830 schüttete man den breiten Rheinarm in ungefähr gleichem Einfallsreichtum mit welchem die Auflösung der Abtei betrieben, einfach zu. Die Abtragung des einzig ausnehmenden Stadttores, des Steinentor-Turmes stand dabei in selber Schlüssigkeit.
Freilich eine der Funktionalität der weiteren Stadtentwicklung bequem Vorschub leistende Maßnahme. Eine Funktionalität, die dann im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts die ästhetischen Beigaben weitgehend abstreifte. Bis endlich im ebenso allgemeinen Schicksale vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die ob Wirtschaftswachstum/Bevölkerungsanstieg gewaltig ausgreifende Stadterweiterung nur noch um alleinige Funktionalität wusste, in ästhetischen Ansprüchen nur noch glücklich getilgten "Kitsch verfehlter Jahrhunderte" vermutete. In Bad Säckingen aber, als einem merkwürdigen Sonderfall deutete sich diese Entwicklung schon mit der Zuschüttung des Rheinarmes, schon 1830 an.

Bad Säckingen als eine sich bestens entwickelnde Stadt “schwappte” in ihr zuvor der Landwirtschaft bestimmtes Umland. In jenen Jahren, wenn nur irgendwie möglich, hätte man wohl auch den Hauptarm des Rheines zugeschüttet. So aber rettete Vater Rhein die schon Merian packende Flussansicht der Stadt, rettete er Baden eine der schönsten landschaftlich-urbanen Prospekte. Zur Landseite aber “wucherte” Bad Säckingen gewaltig aus, bis endlich der Anteil der Altstadt nur noch ein verhältnismäßig kleiner in der neuen “Stadtlandschaft”. Und durch jene “modernen” Partien hat man sich nicht wenig zu quälen um den historischen Stadtkern auf gewöhnlichem Wege zu erreichen. Der Abstumpfung, die man dabei von den modernistischen Belanglosigkeiten und Anonymitäten zu erdulden hat, könnte man alleine entgehen, wenn man sich aus dem Ausland näherte, also die treffliche Holzbrücke von der Schweizer Seite aus beträte. Aber wer wählt schon diesen speziellen Weg? Unsereins dagegen, in der Altstadt angelangt, erfreut sich am gewaltigen Kontrast Alt-Neu, also am Kontrast Baukunst+Funktionalität - nackte Funktionalität, um den aufmerksamen Augen neues Leben zu vermachen. Die schon aus der Ferne des Merianschen Stiches verheißene Baukunst, die nämlich wird aus nächster Nähe verifiziert. Und das ist dann die eigentliche Wohltat, die Auge und Geist aus dem Schleier modernistischer Finsternis wieder auftauchen lässt.

[Fortsetzung nächste Seite / Bilder oben stammen aus Freiburg]

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... Schlüpft man dann auf der anderen Rheinseite wieder aus der "Holzröhre" [die Rheinbrücke], so steht man ganz unvermittelt auf Schweizer Boden. Auch auf dieser Uferseite lässt es sich trefflich flanieren, wobei man seinen Standpunkt der Perspektive Merians schon gut angenähert hat. Erst jetzt begreift man die noch heute große Schönheit Bad Säckingens vollständig. Der Prospekt überzeugt in solch ausgesuchter Anmut, dass er überrascht, ja beinahe irritiert. Derartige Stadtansichten nämlich ist man seit dem 20. Jahrhundert schlicht nicht mehr gewohnt; dass ein Stadtrand von Ansehnlichkeit, ja auch noch von bedeutender Ansehnlichkeit, das ist ein auch in Baden nur noch sehr seltenes Schauspiel. Recht eigentlich begreift man erst im Anblick solcher Schönheit die Tiefe und Tragweite der Hässlichkeit modernistischen Städtebaus und seiner allenthalben zu sichtenden Stadtränder.
Was neben der Anmut der Altstadt - welche gleichsam gekrönt vom hoch aufragenden und breit gelagerten Münster - zumeist ergreift, ist die Harmonie derselben mit den Vorzügen der natürlichen Beigaben, dem Fluss (nebst Ufer und Insel im Süden) und der mannigfaltigen Vegetation. Grund genug einmal mehr auf diesbezügliche Ansichten des Vollenders der Aufklärung, des neben Platon wohl bedeutendsten europäischen Philosophen, Immanuel Kant, hinzuweisen. In seiner dritten Kritik, der Kritik der Urteilskraft zeigt er auf, “dass unser Wohlgefallen an dem Schönen seine Wurzel in einem Vermögen hat, aufgrund des freien Spiels der Erkenntniskräfte erstens das harmonische Zusammenwirken unseres eigenen Vernunftvermögens wahrzunehmen und zweitens diese Harmonie in die empirische Welt hinein zu verlängern. Wir sehen in den Gegenständen eben die formale Einheit, die wir in uns selbst entdecken” [1]. Kurzum auch jener Prospekt: die Anmut von menschlichem Kunstwerk + Naturwerk spiegelt gleichsam unser Innerstes wider. Das innere Streben nach Harmonie wird ergriffen von einer erfolgreichen Harmonie des Äußeren. Das also bedeutet Schönheit.
Das Innere des Menschen - Herz/Geist/Seele - fühlt das richtige Streben, eben das Streben nach Harmonie. Die Irritation, welche bei Betrachtung zeitgenössischer, modernistischer Architektur auch nach fast hundert Jahren immer noch ungehemmt aufkommt, hat hier ihre Wurzel. Was da unter alleiniger Ägide von Funktionalität und der Schimäre “zeitgemäße Ästhetik” daherkommt, hat die sämtlichen Grundlagen der Baukunst, denen das Streben nach Harmonie selbstverständlich, als unnötigen “Ballast” verspottet und gleich einem drückenden Joche abgeschüttelt. Schönheit ist nicht mehr gewollt, Harmonie damit nicht mehr möglich - und wenn die modernistischen Planer darüber auch in bittersten Zynismus fallen: die Verfehlung des modernistischen Entwurfsprinzips wird ohne Umschweife gefühlt - gefühlt von (fast) jedermann.

[1] Scruton, Roger "Kant", Herder/Spektrum, S.122; Scruton paraphrasiert hier aus der “Kritik der Urteilskraft”
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[aus Beitrag "Bad Säckingen"]

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