Sankt Stephan in Karlsruhe / Friedrich Weinbrenner / 1808-14
Sankt Stephan, die katholische Stadtkirche Karlsruhes, welch' zerklüftetes "Gebirge" von einem Gebäude! Das beeindruckendste Werk Friedrich Weinbrenners überhaupt! Sankt Stephan wirkt wie ein aus einer einzigen Masse herausgearbeitetes Bauwerk: zahlreiche Vor- und Rücksprünge wuchtiger Natur sorgen für eine monumentale und überaus reizvolle Massenkomposition.
Aber Sankt Stephan stand zunächst für weit mehr. Als erste große katholische Kirche Karlsruhes war sie zugleich Zeichen der Aussöhnung des evangelischen großherzoglichen Hauses von Baden mit der größtenteils katholischen Bevölkerung der enormen Landgewinne im Zuge der Kämpfe für und gegen Napoleon, in welchen aus der kleinen Markgrafschaft Baden das vierfach erweiterte Großherzogtum wurde. "Wessen Land du bewohnst, dessen Religion teilst du." — dieser über Jahrhunderte gültige Grundsatz konnte endgültig keinen Anspruch mehr erheben; nichtsdestotrotz mussten Katholiken so manche Bitterkeit hinnehmen, z. B. die Schließung sämtlicher Klöster (im übrigen wohl eine der größten Dummheiten Badens, wurden dabei doch zahlreiche blühende Wirtschaftszentren zerstört). Unwillen machte sich breit. Schließlich das versöhnende Zeichen vom badischen Hofe: eine erste und zugleich große katholische Kirche in der Hauptstadt.
Dieser Zusammenhang musste auch Weinbrenner angespornt haben, jedenfalls holte er zum großen Wurfe aus. Und erfüllte sich in Sankt Stephan den Wunsch zahlreicher Architekten dieser Tage: eine Interpretation des großen antiken Kirchenvorbilds, des römischen Pantheons. Doch — oh' Schreck — "die Katholiken" verlangten allen Ernstes einen "ordentlichen" Kirchturm, welcher mit der turmlosen Konzeption des Pantheons gar nicht überein ging! Weinbrenner war zunächst unwillig, sperrte sich einige Zeit, gab aber schließlich nach und entwickelte diesen gar zum formalen Gewinn des Kirchenbaus.
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Dem Pantheon zufolge entstand also ein großer zylinderförmiger Zentralbau mit Kuppel. Abweichend vom Vorbild blieb der Zylinder nirgendwo über seine gesamte (nicht geringe) Höhe sichtbar — er wurde "umstellt". Vier mächtige "Giebelformationen" (die rückwärtige mit Turm) lassen nur noch die obere Zylinderpartie nebst Kuppel durchblicken. Ein Nachteil? Hält man es einzig mit der reinen Form, sicherlich — andernfalls hat man gerade ob der wuchtigen Giebelformationen ein bewundernswertes weil ungemein kraftvolles Massenspiel vor Augen. Die umstellenden Partien rücken also in den Vordergrund, neben dem "umkämpften" Turm drei mächtige übergiebelte Blöcke, mit welchen es merkwürdiges auf sich hat: sie erscheinen als drei eigenständige Teile, entspringen tatsächlich aber einem einzigen Grundkörper, dem riesenhaften Quader (mit Dreiecksgiebeln an jeder der vier gleich langen Seiten), der den Zylinder ganz einschließt. Alleine, man erkennt diesen erst auf den zweiten Blick, die Szenerie wird eindeutig von den drei brachialen Risaliten (und natürlich dem Turm) beherrscht, die sich mittig aus den Seiten des Quaders als reine Massenbewegung nach vorne schieben. Auch muss man genauer hinsehen um die vier großen Giebel zu gewahren, die jeweils über die gesamte Breite auf einer Quaderseite sitzen — kein Wunder, haben die den Horizontal- und Schräg-Geison mit sich ziehenden Risalite doch einen die Dreiecksgiebel stark verzerrende Wirkung, und der rückwärtige Giebel wird vom durchdringenden Turmkörper beinahe zur Gänze gesprengt. Im übrigen bedeuten die vier Giebel auf vier Ansichtsseiten, dass sich die unteren Giebelecken paarweise berühren, die markanten Quaderecken genau unter sich. Die herausgezogenen Risalite sind in erster Linie Formwillen des Architekten, dann aber auch funktional, den Haupteingang und die beiden Seiteneingänge anbietend.
Sankt Stephan gerät sogar für die Verhältnisse Weinbrenners detailkarg, umso wichtiger erscheinen die wenigen mit ihnen verbundenen Öffnungen. Die wuchtigen Giebelformationen erhalten jedenfalls bei geringer Öffnungsanzahl ein beeindruckendes Fassadenbild. Die Nebeneingänge, jeweils im Mittelrisalit, finden in zwei kraftvollen dorischen Pilastern, ein dreifach gegliedertes Gebälk tragend, und auf diesem sitzend einem Halbkreisfenster, bildhafte Betonung — rechts und links davon und bis zum den Geison fortsetzenden Gesimsband dagegen nur Massivität implizierende leere Fläche; aus dem Gesimsband wächst jeweils ein großes Thermenfenster. Eine gut abgestimmte monumentale Anordnung weniger Stilmittel.
Noch beeindruckender der Haupteingang: hier erhält der Mittelrisalit eine treffliche Säulenvorhalle, namentlich eine vom rückwärtigen Quader ausgehende sich um den Risalit ziehende Reihe vornehmer toskanischer Säulen (ursprünglich mit ionischen Kapitellen), einen ungeschmückten ionischen Fries und endlich das flach geneigte Dach tragend, wobei letzteres vom gleichermaßen nach vorne wie nach oben strebenden Risalit durchstoßen.
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Der Kirchturm. Er fällt nicht minder karg aus, wobei die zurücktretenden Details wiederum die (nun eindeutig vertikale) Masse zur Geltung bringen. Wie von Weinbrenners kleineren Kirchen bekannt, unterliegt der Turm einer markanten Zweiteilung. Im unteren Turmabschnitt findet sich neben reichlich leerer Fläche (der wuchtigen Wirkung zutragend) ein erneut aus dem Gesimsband entwickeltes viertes großes Thermenfenster und drei gleichfalls groß ausfallende Rundbogen-Öffnungen mit von mächtigen Rundkonsolen getragenen Kleinbalkonen. Der Turmkorpus findet wie immer seinen Abschluss in einer umlaufenden Galerie mit filigranem Eisengeländer und gehalten von (nun kleiner gewählten) Rundkonsolen. Dann folgt die im Werke Weinbrenners einmalige Turmspitze, welche neben länglicher Grundform durch die Art der Bedachung auffällt: an beiden Querseiten und jeweils mittig der Längsseiten drückt die Masse geisonlose Giebel in die Höhe. Rundbogen-Öffnungen verschiedenen Formats erlauben die eigentliche Funktion, die Freigabe des weithin hörbaren Glockenschlagss.
Die vielleicht auffälligste Eigenschaft von Sankt Stephan blieb bislang unberücksichtigt. Friedrich Weinbrenner gestaltete in Kontinuität zum Barock-Stil sämtliche Bauwerke in optisch weicher und den Baukörper betonender Verputzhülle. Sankt Stephan verdankt einen Teil seines Reizes aber der harten Ausstrahlung des roten Sandsteins, einem Umstand für den sich Weinbrenner lustigerweise nicht verantwortlich zeichnet. So unglaublich der erklärende Hintergrund auch klingen mag, tatsächlich führte unsachgemäß aufgetragener und alsbald abbröckelnder Verputz nach einigem Hin und Her zum Beschluss den Kirchenbau entgegen der Absicht Weinbrenners nackt, unverputzt zu belassen.
Zum Ende rückt noch "Urklassizist" Andrea Palladio auf die Buchseite. Weinbrenner kannte sein Werk aus dessen umfangreichen Lehr- und Werkverzeichnis-Büchern, auch wurde er in Berlin Zeuge des vor allem von Langhans propagierten Neo-Palldianismus. Beides hatte Weinbrenner offenbar dahingehend genügt um bei seinem immerhin fünf Jahre währenden Italien-Aufenthalt Palladios Hauptwirkorte Vicenza und Venedig noch nicht einmal in aller Kürze zu streifen. Nichtsdestotrotz bedeuteten Palladios Werke Inspiration für Weinbrenner — hierfür kann auch Sankt Stephan zum Beispiel dienen. Circa 250 Jahre vor Sankt Stephan stimmt Palladio bei den Kirchen von San Giorgio Maggiore und Il Redentore (beide in Venedig) ein spannungsreiches Spiel sich verschneidender oder auseinander hervorgehender Dreiecksgiebel an. Alleine bei Palladio gelingt dies weit feingliedriger und schmuckvoller als in Weinbrenners wuchtigen Giebelformationen. Palladio mag hierfür durchaus die Inspiration geliefert haben, im Vordergrund stand jedoch Weinbrenners Wunsch nach kraftvoller Massenwirkung — ein beinahe entgegengesetztes Ansinnen.
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_ Quellen 1) das Bauwerke selbst - Stilmerkmale und Wirkungen; Betrachtung des Gebäudes vor Ort
2) Dr. Emil Lacroix und Dr. Heinrich Niester "Kunstwanderungen in Baden", Chr. Belser Verlag Stuttgart, Ausgabe 1959
3) Arthur Valdenaire "Friedrich Weinbrenner: Sein Leben und seine Bauten", C. F. Müller, 4. Auflage Heidelberg 1985 (im Original: Braun Verlag, Karlsruhe 1926)
4) Website www.karlsruhe.de
5) Dieter Dolgner "Klassizismus", E.A. Seemann Verlag Leipzig 1991
6) Tilman Mellinghoff, David Watkin "Deutscher Klassizismus: Architektur 1740-1840", Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart 1989
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