Baukunst in Baden
  Kehl Rathaus (48)
 

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Rathaus der Stadt Kehl (Landkreis Ortenau)      /      1815 / 1921(!)

In Kehl, der bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts gewaltigen Festung am Rhein, trifft man auf ein erstaunliches Gebäude im Stile Weinbrenners: das Rathaus. Es zählte zu den ersten Bauten der Stadt in der Zeit der "Post-Festung", und es zählt zu den wenigen Gebäuden, die die verheerenden Zerstörungen im deutsch-französischen Krieg 1870/71, bzw. im Zweiten Weltkrieg überstanden.
     Zu solcher Bedeutung gelangt schickt sich dem Gebäu die gleichfalls exponierte Gestaltung nur umso trefflicher. Wir haben hier eines der monumentalsten Rathäuser des Stiles Weinbrenners vor uns, übertroffen nur von der Karlsruher Ausführung von Friedrich Weinbrenner und gleichwertig der Eppinger von August Schwarz. Und dennoch, eine gewichtiges Kriterium darf nicht verschwiegen werden: das Kehler Rathaus ist in seinem der Monumentalität entscheidenden Bauteil, dem beeindruckenden Mittelrisalit, kein originaler Weinbrenner-Stil, sondern ein "Neo-Weinbrenner"!
     Das Gebäude geht zwar in der Tat bis in die Tage Weinbrenners zurück (um 1815 ausgeführt, war es seinerzeit ein Kasernenbau), der Säulen-Portikus aber wurde erst ein Jahrhundert später errichtet. In der Zwischenzeit hatte der Historismus in Deutschland die sämtlichen historischen Stile von Romanik bis Barock in atemberaubender Geschwindigkeit in Neo-Bewegungen kurz aufleben lassen, nur umso sie zumeist kaum 1-2 Jahrzehnte später sogleich wieder zu verwerfen. Und in Tagen unserer fälligen Rathaus-Erweiterung, man schrieb das Jahr 1921, war gerade der Klassizismus zu seiner "Neuauflage" gekommen, was im Falle eines badischen Bauwerkes konsequenterweise nur die Wiedereinführung der Formenlehre Weinbrenners bedeuten konnte. Man sollte hier noch anmerken, dass der Neo-Klassizismus zu diesem Zeitpunkt seine Existenz schon wieder aushauchte, dieselbe zugunsten des Expressionismus. Im übrigen war der Neo-Klassizismus der letzte historistische Stil.
     Das große Problem des Historismus lag in seinen schwindelerregenden Halbwertszeiten. Jahrzehnte vor dem hereinbrechenden Modernismus hatte man sich im Grunde schon selbst verloren, war nur noch fähig in Moden zu denken. Dementsprechend ward mit jeder neuen Architektengeneration auch ein neuer Neo-Stil beansprucht. Fatal! Hätte man die Neuauflagen in aller Ruhe und Nachhaltigkeit betrieben, ja hätte man der immer möglichen Weiterentwicklung einfach die notwendige Zeit eingeräumt, so hätte der keineswegs a priori zu verwerfende Gedanke der Wiedereinführung zweifellos gelingen können. Jene Tage aber, sie waren solchem Ansinnen nicht mehr zugänglich, nur noch der Effekt des "Neuen" zählte, nur noch das Modische.

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Dennoch aber konnte es nicht ausbleiben — immerhin waren die historischen Stile, denen man nacheiferte allerbeste Grundlage — dass hier und dort ansehnliche, mitunter sehr ansehnliche Bauwerke entstanden. Und zu letzterem darf man auch das Kehler Rathaus zählen, das sich seinen Platz unter den ersten 50 Bauwerken des Stiles Weinbrenners zweifellos billig verdient. Nur der objektiv nicht zu vertretende Hinweis, dass es sich um einen Neo-Weinbrenner handelt, könnte dies vereiteln — keineswegs aber der formale Umgang, der sich eng genug und mit einigem Geschick am Kanon des Friedrich Weinbrenner orientiert. So hat man in erster Linie ein Gebäu im Stile Weinbrenners vor sich (und das in allen Partien).
     Das ursprüngliche Gebäude war ein zurückhaltender Putzbau, der auf Würdesymbole nicht viel verwenden durfte. Ansehnlich gewiss, anregend aber nur dem Liebhaber. Das freilich änderte sich mit der Erweiterung des seit 1910 als Rathaus genutzten Bauwerkes, namentlich durch die Hinzufügung eines glanzvollen Säulen-Portikus. Derselbe nun, drei Interkolumnien anbietend, ward dem Altbau symmetrisch und in der Art eines Risalites vorangestellt. Und geboren ward ein ergötzlicher Anblick!
So nimmt man die treffliche Massenanordnung wahr, wie immer im Stile Weinbrenners dem kraftvollen, ja wuchtigen Ausdruck verpflichtet; dabei keineswegs den wohlproportionierten Gesamteindruck aus den Augen verlierend. Bei aller Kraft und Monumentalität kommt dennoch die Harmonie nicht zu kurz. Alt- und Neubau treten ohne weiteres geschickt zueinander.
     Vier ungewöhnlich hohe dorische Säulen treten empor, gar bis auf Höhe des Dachgesimses des im übrigen bescheiden gebliebenen, dreistöckigen Hauptbaues. Jenen Säulen entspringen drei Bögen, die dank Rustizierung durch Putzrillen von guter Wirkung. Diesem Fassadenabschnitt, nicht unähnlich einer Rundbogen-Brücke sitzt alsbald der Dreiecksgiebel auf. Dessen Geison ward sehr dünn ausgeführt und an der Unterseite mit Mutuli versehen, was im Ganzen von gelungener Wirkung. Der Giebel allenfalls ist für den Stil Weinbrenners ein wenig flach — aber darin sehen wir keine entscheidende Abweichung, eher eine wie auch im originalen Weinbrenner-Klassizismus oft zu sichtende Eigenart des Baumeisters.
     Von sehr gelungener Ausführung das oberste Geschoss des Risalites. Dieses nämlich, hier gleichsam als edelstes Geschoss, ward einer zu befensternden Räumlichkeit gewidmet. Zwischen den Säulen also entstanden geschlossene Fassadenabschnitte, die einer wohlwollenden Optik gemäß keinesfalls frei in der Luft "schweben" sollten. Zu diesem Behufe fanden sich Rechteckpfeiler, um ein Geschoss niedriger als die erstaunlichen Säulen und an dieselben rechts und links geschmiegt, bereit genannte geschlossene Partien zu hieven (zumindest dem Aussehen nach). Ein Aufbau, salopp gesagt, mit Hand und Fuß. Da will es endlich nicht wunder nehmen, dass auch die drei emporgehobenen Partien von gekonntem Entwurf. Zunächst nämlich tragen die Pfeiler je einen Balken, welchem dann das rundbogige Fenster aufsitzt. 

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Es ist gerade jene Originalität im Aufbau — zunächst über zwei Geschosse freistehende Säulen und dann plötzlich eine geschlossene Fassade, welche endlich über "Brücke" und Dreiecksgiebel abgeschlossen — die reichlich Weinbrenner-Esprit atmet. Dieser nämlich ward immer um freie Komposition bemüht und keineswegs um sklavische Befolgung der strengen antiken Gestaltungsregeln; so war das originelle Moment immer wichtiger als die genaue Abbildung der überkommenen Säulenordnungen.
     Bleibt noch der eigentliche Eingang zu ergänzen. Folgerichtig erreicht man ihn über die Säulenvorhalle. Zwei mächtige eingeschossige Rechtecksäulen stemmen zu diesem Behufe einen Balken — der geschaffene Leerraum ergibt den Eintritt. Im übrigen praktisch das einzige veredelnde Detail des Hauptbaukörpers. Auch das typisch Weinbrenner: aller formaler Vorzug gebührt dem Mittelrisalit, also dem wichtigsten Bauteil — und der Rest, gleichsam als ausgleichendes Rückgrat, kann ohne Eintrag nicht zurückhaltender gedacht werden.

Viele Jahrzehnte nach Friedrich Weinbrenners Tod, nach eigentlichem Abklingen seines Stilkanons, fand derselbe nochmalige Verwendung. Der Kehler Entwurf mag nicht aus Weinbrenner-Tagen stammen, dennoch aber atmet er ganz trefflich jenen spezifischen Geist. Und daran sollte man sich nicht erfreuen? Es gibt wohl eine besserwisserische Art, die solches verübelt.
     Anbei zwei weitere Beispiele des Neo-Weinbrenner-Stiles aus also gleicher Zeit. Es sind die Rathäuser von Keltern-Dietlingen (rechts) und Biberach (links). Zwar erreichen sie nicht den zugegebenermaßen hohen Standard des Kehler Beispieles, jedoch nicht ohne gleichfalls Beiträge zur Baukunst zu leisten.
     Und genau darum geht es in erster Linie bei der Gestaltung, das ist der erste Wert der Gestaltung. Und es hat schon des wertetilgenden 20. Jahrhunderts bedurft um diese Gewichtung aus den Augen zu verlieren.

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Quellen
1) das Bauwerk selbst - Stilmerkmale und Wirkungen; Betrachtung des Gebäudes vor Ort
2) Dr. Emil Lacroix und Dr. Heinrich Niester "Kunstwanderungen in Baden", Chr. Belser Verlag Stuttgart, Ausgabe 1959; Weinbrenner als Baumeister des ursprünglichen Gebäudes
3) örtliche Informationstafel




Website-interne Verlinkungen, Kehl betreffend

1) Christuskirche in Kehl von Friedrich Weinbrenner   http://www.badischewanderungen.de/Kehl-Kirche--k1-42-k2-.htm
2) Stadtpalais in Kehl von Friedrich Weinbrenner   http://www.badischewanderungen.de/Kehl-Stadtpalais--k1-38-k2-.htm
3) Historische Baukunst in Kehl   http://www.badischewanderungen.de/Kehl.htm


Website-interne Verlinkungen auf weitere Beispiele des Neo-Weinbrennerstils

1) Rathaus in Lahr-Hugsweier   http://www.badischewanderungen.de/Hugsweier-Rathaus--k1-23-k2-.htm
2) Kirche in St. Peterstal-Griesbach   http://www.badischewanderungen.de/Bad-Peterstal-Kirche--k1-51-k2-.htm
3) Kirche in Ottenhöfen   http://www.badischewanderungen.de/Ottenh.oe.fen-Kirche--k1-17-k2-.htm

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