Der große Karl Theodor, der so kunstsinnige und erfolgreiche Kurfürst — er durfte, ja musste noch größer werden. Welch’ Moment als dem kurpfälzischen Oberhaupt durch Erbgang nichts geringeres als ganz Bayern zufiel! Da hatte die vergleichsweise kleine Kurpfalz auf einmal das große Kurfürstentum Bayern zu verspeisen! Nein, das konnte nicht gut gehen; Bayern — und das konnte auch gar nicht anders sein — blieb der allzu zuversichtlichen Kurpfalz im Halse stecken! Nicht Bayern wurde Teil der Kurpfalz — umgekehrt — die Pfalz wurde Teil von Bayern. 1778 denn auch das klare Signal; solch großem Lande konnte die kurpfälzische Metropole denn doch nicht die Capitale sein — um die Erbschaft antreten zu können, musste Kurfürst Karl Theodor nach dem ohnehin bedeutenderen München wechseln, samt dem großen Hofstaate versteht sich. So war denn der Anfang zu noch bedeutenderen, einflussreicheren Zeiten im Grunde nichts anderes als das Ende der Kurpfalz, der so ruhmreichen, der kaiserbestimmenden, ja auch der so alten Kurpfalz! Es war das Ende des wichtigsten Landes auf dem Territorium des späteren Großherzogtums — mit Möglichkeiten der Einflussnahme, auch mit finanziellen und baukünstlerischen Mitteln, von denen die badischen Markgrafschaften, ob nun getrennt oder vereint, immer nur träumen konnten. Die Kurpfalz war mondän, die Markgrafschaft(en) Provinz; solange bis das von Napoleons Gnaden entstehende Großherzogtum kam.
Und Napoleon, respektive das revolutionäre Frankreich griff schonmal vorab nach der verwaisten Capitale Mannheim: 1795 wurde die Stadt von französischen Truppen erobert. Man sah die sogenannten Koalitionskriege der anderen großen Monarchien Europas gegen das von solcher "enthaupteten" revolutionären Republik — und man sah wie sich eben letztere ausgerechnet Mannheim griff. Mannheim war zu diesem Zeitpunkt nicht nur eine deutsche Großstadt, auch nämlich seit ihrer eigentlichen Geburtsstunde 1606 eine der wichtigsten Festungen in Südwestdeutschland. Seinerzeit waren die Großstädte, die Capitalen allzumal, durch riesige sternförmige Schanzenanlagen, deren Grundfläche oft größer als die eigentliche Stadt, zu wahren Bollwerken ausgeufert.
So auch Mannheim, die im 18. Jahrhundert bedeutendste Stadt und Festung der Kurpfalz. Und solche hatte sich Frankreich also gegriffen. Das durfte aus Sicht der Gegner keinesfalls so bleiben — man setzte alles auf die Wiedereroberung. Und alles bedeutete für die heranrückenden und trefflich kanonenbestückten Österreicher, dass alles was nach der Stadt schießen konnte, denn auch nach Mannheim hineinschoss! Während sich die französische Mannschaft verschanzte und erbitterte Gegenwehr leistete, ging Mannheim von Stunde zu Stunde mehr zu Bruch. Am Ende war die alte Capitale so zurückerobert wie zerschossen! 17 Jahre nach dem Ende als Hauptstadt, 1795, lag das so stolze Mannheim vollends entblößt!
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Wer die Residenz 2-3 Jahrzehnte vorher gesehen hatte, der erhielt allzu leicht einen Begriff vom entschiedenen Kunstbestreben des Kurfürsten Karl Theodor. Und wer war seinerzeit nicht alles nach der barocken Berühmtheit gekommen: Goethe und Klopstock, Mozart, Lessing und Wieland, Schiller! Um nur die berühmtesten aufzuzählen! Karl Theodor, der auch wirtschaftlich sehr erfolgreich, er hatte überdies die kurpfälzische Akademie der Wissenschaften, das Nationaltheater und das berühmte Mannheimer Orchester gründen lassen. Im Nationaltheater kam es zur Uraufführung von Schillers "Die Räuber", und die Mannheimer Komponisten, als "Mannheimer Schule" in die Musikgeschichte eingegangen, waren nichts weniger als Wegbereiter der Klassik.
Dass dem ganzen denn auch die gebührliche architektonische Umgebung keineswegs fehlen durfte, dafür hatte schon Karl Theodors Vorgänger Kurfürst Karl Philipp den Grundstein gelegt, und Karl Theodor vollendete. Das absolutistische Stadtschloss, als zusammenhängendes Gebäu wurde es gar das größte Deutschlands — mit der Jesuitenkirche entstand einer der bedeutendsten süddeutschen Kirchenbauten — das waffenbergende Zeughaus sah aus wie ein italienischer Barockpalast — das Rathaus erhielt unüblicherweise einen prächtigen Turm — ja, zur Wirtschaftsförderung entstand ein Kaufhaus, wiederum mit weithin kündendem prächtigen Turm, schöner als die meisten Residenzschlösser! Und als endlich Goethe um eine Einschätzung des Mannheimer Stadtbildes gebeten, da sah er die aus quadratischen Stadtblöcken zusammengefügte Gestalt ohne weiteres als "heiter" an. Die Neustadt Mannheim, die sich nie um mittelalterliche Vorgänger, mittelalterliche Winkeligkeit und zu erhaltende Monumente scheren musste, sie stand da wie aus einem Guss; prachtvoll im Kleinen wie im Großen. Sprach man im ausgehenden 18. Jahrhundert von Deutschlands Städten, so fiel der Name Mannheim meist zu Beginn solcher Unterhaltung.
Wer aber heutigentags durch die Mannheimer Wüstenei schreitet, der will diesen Ruhm überhaupt nicht mehr begreifen! Auch weil der Beginn des Niedergangs schon so lange zurück. 1778 "fiel" die Capitale, 1795 fiel die Stadt. Letztere wurde wieder aufgebaut, die wichtigsten Bauwerke wieder instand gesetzt — zeitgleich aber musste man zusehen wie ein weiteres Charakteristikum der Stadt auf Nimmerwiedersehen verschwand. Die Kurpfalz als nur noch bayrisches Anhängsel — und das war sie 1799 nach dem Tode des ohne Erben gebliebenen Karl Theodor nun endgültig geworden — sie sank in solche Bedeutungslosigkeit, dass sie zu schierer "Verfügungsmasse" verkam! Bedenke man auch die gewaltige Rasanz des Abstieges: 1777 noch unangefochtener "Staat Nummer Eins" auf dem Territorium des späteren Baden (im übrigen auch mit zahlreichen Besitzungen außerhalb Badens), eines der wichtigsten Länder des Deutschen Reiches — und ab 1802 nur noch Verfügungsmasse, welche dem badischen Markgrafen wie ein weicher Brei serviert (damit der sich nicht auch "verschluckt"), serviert von Napoleons Strategen.
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Napoleon freilich traute dem alsbaldigen Großherzog (nach Markgraf und Kurfürst von Baden) nicht allzu weit. Den Rheinbundstaaten, wozu denn auch Baden zählte, war nur insofern zu trauen als sie freilich deutsch blieben. Napoleon hatte sie ganz und gar im Griff … aber man konnte ja nie wissen. Und die Geschichte gab dem kleinen Korsen auch in diesem Punkte recht — am Ende waren sie nämlich in trauter Einheit wieder auf deutscher Seite. Man kann nie wissen … und so durfte das neu entstehende Großherzogtum wohl Truppen für Napoleon stellen (die nach Moskau und zurück fast gänzlich umkamen), keineswegs aber durfte Baden Festungen besitzen. Nein, Baden musste für Frankreich ein "offenes" Land sein. Uns so wurden sie denn geschliffen, die großen Festungen badischer Lande: Kehl und Philippsburg — und freilich auch Mannheim!
Die Quadrate Mannheims waren ungefähr in einem äußeren Umriss als Kreisform, sie waren durch die schiere Größe des kurfürstlichen Schlosses gleichsam darauf bezogen, und sie waren nach außen von einer gewaltigen sternförmigen Schanzenanlage umschlossen. Das die drei besonderen Qualitäten von Mannheim im 18. Jahrhundert, wohlgemerkt vom bedeutendsten und schönsten Mannheim das vorher und nachher gesehen: der "quadratisch-praktische" Stadtgrundriss, das riesige Stadtschloss und das sternförmige Bollwerk. Und letzteres hatte mit Beginn des 19. Jahrhunderts zu gehen — unwiderruflich! Dem Befehle Napoleons fügte man sich seinerzeit besser (wenn man nicht gerade Zar oder auf der englischen Insel). Aber male man sich’s nur für einen kurzen Moment aus, wenn statt der Wüstenei noch heutigentags jenes dreifach geadelte Barockkunstwerk vor Augen — die Touristenschaft würde wohl zwischen Heidelberg und Mannheim vollständig aufgerieben sein, angezogen von der Gegensätzlichkeit zweier gleichstarker Magnetpole!
Rund zweihundert Jahre hatte die bastionäre Anlage Bestand, ward immer wieder ausgebaut und verbessert. Und sie lag auch noch glänzend strategisch. Auf einer Halbinsel am Zusammenstrom der Flüsse Neckar und Rhein war sie von drei Seiten praktisch unzugänglich. Man wollte solche Veste wohl für unüberwindlich halten. Und so kam denn Kurfürst Friedrich IV. 1606 zum Entschluss, ein bis dato hier verweilendes Dorf, das immerhin zu den größten und reichsten des Oberamtes Heidelberg zählte, einfach gegen eine Festung mit Stadt zu vertauschen. Das bereits im Jahre 766 erstmals urkundlich genannte Dorf musste verschwinden, die Bewohnerschaft in das von allem Anfang an krude Straßenraster. Dort wurden dann zunächst noch langsam die quadratischen Baublöcke in noch sehr gelinde ein- bis zweigeschossige Höhen geführt. Gleichfalls von allem Anfang an legten sich die spitzen Schanzen um das Stadtraster — und die Stadt selbst lehnte sich an eine Veste in der Veste! Die Stadt war durchaus nur Ergänzung zur Friedrichsburg, der eigentlichen Festung, die also ihre spitzen Schanzen auch munter in die Stadt hinein spießte.
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Furchteinflößend, schauerlich furchten die steil aufragenden Bastionen die nähere Umgebung der Halbinsel, gleich ob als Veste mit angelagerter Stadt oder wie seit 1709 als vereinigter Festungskörper. Man hätte den kurpfälzischen "Stern" wirklich für uneinnehmbar halten können. Aber die Mannheimer treten noch heutigentags gerne ein wenig vorlaut auf; wenn das auch der eine oder andere ob des lustig klingenden kurpfälzischen Dialektes nicht ganz ernst nehmen will. Und genau so erging’s denn auch unserer schanzenstrotzenden Festung: so schaurig die Bastionen auch trutzten, ganz von alleine konnten sie sich denn doch nicht verteidigen! Der Festung war keinerlei Ruhm beschieden. Ohne besondere Gegenwehr fiel sie im 30jährigen Krieg; 1622 eroberte der kaiserliche Tilly und legte Stadt und Veste nieder. Ebenso 1689, diesmal von des "Sonnenkönigs" Pranke, ward sie hinweggefegt.
Auch die Festung war ein wenig vorlaut. Die Kurpfalz, die war zwar schon wirklich jemand. Alleine ganz alleine konnte sie das Bollwerk gegen die heranrückenden Heerscharen keineswegs verteidigen. Und so fiel das Bollwerk denn, wann immer ein Großer "anklopfte". Aber sei man darüber nicht allzu verdrießt, auch Phillipsburg und der gleichfalls riesigen, jedoch schon im 18. Jahrhundert geschliffenen Veste Breisach erging’s kaum besser. Den "Heuschrecken" des 17. Jahrhunderts war kaum beizukommen. Die ruhmvolle Veste der Kurpfalz ist der unbesiegte Dilsberg im Neckartal — jedoch wurde selbst diese im Kampf unbezwungene regelmäßig übergeben. Nein, den "Heuschrecken" des 17. Jahrhunderts war in Baden nicht beizukommen.
Im frühen 19. Jahrhundert schwand der Nutzen solcher Befestigungen ohnehin nur weiter. Nichtsdestotrotz war der Demolierungsbefehl das Entscheidende. Und Jahrzehnte später würde das Großherzogtum ja nochmal eine solche Anlage ganz neu erschaffen, nur noch weitläufiger um das zur Bundesfestung erkorene Rastatt gelegt! Für Mannheim jedoch schwand ein bedeutendes Charaktermerkmal der ersten zwei Jahrhunderte. Das gleichsam der erste große Schlag für die Stadtgestalt; in den 1940ern erfolgte dann der zweite, der noch weit verheerendere — aber soweit sind wir noch nicht.
Als denn Mannheim badisch wurde, was im übrigen die Mannheimer immer kalt ließ, da zog der Großherzog mit einigem Pomp in die illustre Ex-Capitale. Das freilich war ja auch der größte Coup überhaupt des Emporkömmlings.
Und das wusste man zu schätzen. Alleine um eine rechte Verwendung der größten badischen Stadt wusste man nicht so recht. Karlsruhe sollte Capitale bleiben, was ob der zentralen Situierung der gleichfalls barocken Neustadt ohnehin offen am Tage lag. Das verwaiste Schloss, es blieb verwaist. Einige Verwaltung zog ein — freilich ohne jeglichen Glanz. Nein, die residenziale Zeit war vorbei; die Zeit rauschender barocker Selbstentfaltung des glitzernden kurpfälzischen Hofes, sie kam einer lang zurückliegenden Erinnerung gleich. Damit schwand der Stadt fast alle Attraktivität!
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Welch’ gewaltigen Höhepunkt hatte die Stadt noch 1778 erklommen: sie war eine der barockprächtigsten Capitalen des Deutschen Reiches, ein Hort des Geistes und der Kunst, und nun kam auch noch ganz Bayern hinzu! Nur drei Jahrzehnte später lag die einflussreiche Schönheit halb in Trümmern, sah ihre Verteidigung genauso wie ihre Bedeutung vollends schwinden. Welch Abstieg! Und welch Rasanz! In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts sank Mannheim in einen Dornröschenschlaf. Ein verwunschener Schlaf, wie er insbesondere alten Residenzen nicht trauriger sein kann.
Zaghaft, noch ganz zaghaft zog hier und da eine Fabrikation ein. Wer hätte seinerzeit gedacht, dass solche zu einem neuen Ruhm der Stadt werden sollte!? Aber es war ein Vakuum entstanden, und das füllte sich je weiter das 19. Jahrhundert voranschritt, desto deutlicher. Die Industrialisierung und mit ihr die nicht weniger berühmte Gründerzeit rüttelten ab den 1870ern vehement an der Schlafenden. Ja, kaum erwacht, rissen sie Mannheim förmlich in ein neues Leben, das pochender gar nicht hätte sein können. Der Puls der altbarocken Schönheit, er schlug fast von Stund zu Stund schneller. Die Dampfkessel fauchten, und das altehrwürdige Mannheim, es kam außer Atem. In Hochgeschwindigkeit — das ja das Markenzeichen jener Gründerzeit — wiederum in ungefähr drei Jahrzehnten(!) von 1870-1900 war das so beschaulich gewordene Mannheim zur Großstadt gleichsam "explodiert"!
Ja, was ganz im Nordosten Badens entstand, konnte man nur als Großstadt bezeichnen. Seinerzeit und auch heute noch die einzige Badens. Der alte Ruhm der Stadt, er wurde dauerhaft in eine neue Form "geknetet". Und zunächst blieb auch diese neuerliche Gestalt durchaus eine ansehnliche.
Was denn um 1900 vor Augen, hätte Goethe wohl kaum noch als "heiter" bezeichnet: die Stadt war schon damals weit über die alten Grenzen "hinausgeschwappt", und sie hatte die gelinden Gebäudehöhen, welche zwischen zwei und drei Stockwerken schwankten, durch Neubauten gerne verdoppelt. Die barocken und klassizistischen Bürgerhäuser, die die Quadrate der Stadt zumeist auch in formaler Gediegenheit ausgefüllt hatten, waren sukzessive durch große und detailreiche Bauten des Historismus ersetzt worden. Hier und da blieben sie wohl erhalten — eine handvoll gar bis ins 21. Jahrhundert — aber selbst dort kamen beständig höhere und "lautere" Gebäude im Gründerzeitstil dazwischen; beunruhigten also die Silhouette und die Fassadenabfolge der stringenten Straßenzüge allenthalben. Nichts weniger als einen veritablen Maßstabssprung hätten Goethes Augen nachvollziehen müssen: aus der niedrigen Stadt war eine hohe geworden, aus der Ruhe und Übersichtlichkeit das heterogene und aufreizende Stadtbild des Historismus. Je höher aber die satt ornamentbehängten Fassaden reichten, desto unauffälliger erschienen die schönen Barocktürme der Kirchen und der anderen öffentlichen Bauten; schlicht weil sie nun gleichsam versteckt. Und selbst das Schloss mit seinen langen Armen verlor viel von seiner Anziehungskraft. Nein, Goethe hätte hier kaum noch von "heiter" gesprochen.
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Die Stadt der hohen Künste und des anspruchsvollen Geistes musste Ende des 18. Jahrhunderts weichen. Auf das rund 50jährige Vakuum folgte eine nicht minder erfolgreiche, aber eben weit weniger kunst- und geistvolle Stadt. Es war die Blütezeit des Kapitalismus, die ihn reich machende und den einfachen Bürger ausbeutende Industrialisierung, die das neue Oberhaupt der Stadt. Und in solcher Schieflage konnten denn auch die Kapitalbürger keines sicheren Stilsinnes sein. Die Baumeister mussten an die Fassaden hängen, soviel nur irgend möglich. Im Grunde schon das Ende der Baukunst, nur eben noch äußerst prächtig verpackt. Zahlreiche neue "Residenzschlösser" entstanden in und um Mannheim — Baukunst mit Prunksucht verwechselnd.
Und die einfachen Bürger, die man nun nur noch als Industrieproletariat kannte? Die schufteten sich für den Reichtum des neuen Geldadels schier zu Tode — arbeiteten und lebten unter elendsten Bedingungen. Ihnen waren wie in jeder Großstadt die Hinterhöfe der Baublöcke vorbehalten, wo statt Prunk Feuchtigkeit und Schimmel, statt Glanz kaum Tageslicht. Wer durch das Straßengitter spazierte, mochte sich am Prunk der historistischen Gebäuden wohl noch erfreuen — und immerhin kopierte der Historismus ja nicht irgendwen, sondern die formensicheren historischen Stile von Romanik bis zum Klassizismus, da musste eine gewisse Ansehnlichkeit zwangsläufig entstehen — wie ja auch die wichtigsten barocken Bauwerke aus der Hochzeit Mannheims weiterhin zur Betrachtung einluden (den ambitionierten Bauherren und Baumeistern waren diese im übrigen weniger Vorbild, sondern an Pracht zu übertreffende Ausgangsbeispiele — sic!). Die Gründerzeit hatte zwar die Proportion der Straßen ungünstig verändert: durch die doppelt so hohen Fassaden wirkten diese nun schmäler und gedrängter. Aber die barocke Anlage hatte als residenziale und kurfürstliche eine Großzügigkeit vorwalten lassen, dass der Maßstabssprunges tatsächlich verkraftet wurde!
Das alles aber galt keineswegs für das Innere der Baublöcke. Sie waren in barocker Zeit kleinen Nebengebäuden und der Vegetation anheim gestellt, in der Gründerzeit dagegen wurden sie so voll gebaut, wie die neuen "Residenzschlösser" Ornament an Ornament reihten. Kurzum hier blieb kaum Luft zum Atmen. Zwar reichte man keineswegs heran an das schlimmste Beispiel Deutschlands, welches ausgerechnet Berlin, die Hauptstadt des neuen Deutschen Reiches, aber unmenschlich genug ging es auch hier zu.
Noch bis zum Ersten Weltkrieg wuchs die Stadt munter weiter. Mannheim war zu neuem Ruhm gekommen, man war hier wieder jemand. Alleine dieser neue jemand, er kannte für die Gewinner des Umwandlungsprozesses eben doch zu viele Verlierer — und hier ist vornehmlich an die Menschen gedacht. Und diese Spannung und Zerrissenheit, ferne von der Homogenität der Hochzeit unter Kurfürst Karl Theodor, sie spiegelte sich im aufreizenden Stadtbild direkt wider.
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Nachdem aber die Geschütze in Verdun endlich schwiegen, der Erste Weltkrieg millionenfach getötet hatte, da entstand in Deutschland zumindest vordergründig etwas ganz Anderes. Die wilhelminische Lebensart musste verschwinden, mit ihnen auch der badische Großherzog und alle anderen Monarchen Deutschlands; wie denn auch der Gewaltkapitalismus manch’ Zügel angelegt bekam. Der Industriearbeiter wurde nun besser gestellt. Alles das bildete sich nach dem Ersten Weltkrieg auch an Mannheim ab. Vor allem wuchs die Stadt weiter; verirrte sich auch schon der eine oder andere "moderne" Bau im Stil der 1920er nach der Innenstadt. Die Prospekte der Innenstadt veränderten sich indessen kaum. Es blieb bei der Mischung Barock für die öffentlichen Bauten — Historismus für die Stadthäuser. Mannheim blieb ohne weiteres ansehnlich, Verzerrungen hin, Überspitzungen her.
Dann aber der Kriegswahn des Nationalsozialismus und die Vergeltung der Alliierten. Und freilich stand da Mannheim ganz oben auf der Liste der Angriffsziele, als der Luftkrieg über Deutschland begann, als zu zermürbende Großstadt und als wichtiger Industriestandort. Mannheim ging unter!
Keine andere Stadt Badens musste solch’ gewaltige Zerstörung leiden! Auch die anderen größeren Städte büßten: Karlsruhe, Freiburg — und das arme Pforzheim ward nahezu ausgelöscht. Am meisten aber ging in Mannheim unter, schlicht weil es hier am meisten zu zerstören gab. Im 30jährigen Krieg und im Pfälzischen Erbfolgekrieg 1689 fand man Mannheim bereits zweimal ausgelöscht — und nun von 1942-45 das dritte Mal!
Als der Nazi-Wahn endlich ausgetrieben, fand man in Mannheim die unheimlichste Trümmerwüste. Vor allem im Stadtkern, in der barocken Quadrateanlage standen nur noch sehr wenige Gebäude unversehrt. Auch die barocken Werke aus kurfürstlicher Zeit hatten böse gelitten.
Wer oben Trauer empfunden haben mag über den enormen Bedeutungsverlust Mannheims in der Wende 18./19. Jahrhundert, der darf nun gar die eine oder andere Träne vergießen! Die Stadt musste ab den 1950ern wiedererstehen — und das wäre ja wie nach den Untergängen im 17. Jahrhundert ohne weiteres angegangen — hätte da ein Baustil zur Verfügung gestanden, der wie alle anderen Baustile zuvor neben der Funktionalität auch um Ästhetik, um die eigentliche Baukunst bemüht gewesen. Aber die seit Jahrtausenden gültigen Regeln der Baukunst, Regeln, die die Fassaden dem betrachtenden Auge erst annehmbar machen, die waren nun ausgetrieben! Seit den 1920ern galt dieses Regelwerk als ein Relikt, als historischer Ballast, der zweifelsfrei zu tilgen sei. Die saubere Abbildung der Gebäudefunktionen, kurzum "Funktionalismus", sollte jenes Regelwerk, die "Baukunst", gleichsam als Zauberwort ablösen, mit harschen Worten, im revolutionären Stil der Zeit eingefordert. Viel wurde seinerzeit und bis heute von (angeblich) neuen Wahrheiten geredet: Wahrheit der Konstruktion, Wahrheit des Materials und natürlich die Wahrheit von Form und Funktion. Die so erfolgreichen Initiatoren, die Funktionalisten der frühen 1920er waren tatsächlich der Überzeugung, dass sauber abgebildete Funktionen ganz automatisch ansehnliche Fassaden bewirken würden. Wozu also noch das alte Regelwerk, dessen Ergebnisse obendrein im ständigen "Ruch" eines "schmalzigen Fassadenkitsches"?
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Tatsächlich, die seit Jahrtausenden gültigen Regeln der Baukunst, die bis dato die Funktionalität in betrachtenswerte Gebäudeansichten überführt hatten, sie wurden mit erstaunlicher Konsequenz aus der Welt geschafft! Das aber konnte nur in Einklang mit einem übermächtigen Zeitgeist vollbracht werden! Und in der Tat: der Sieg der Wissenschaft trieb vielerlei Blüten. Mehr und mehr galt nur noch das als real existierend (nicht nur gedanklich existierend), was auch mit den Mitteln der Wissenschaft nachweisbar. Der Nachdenkliche bemerkt die Grobschlächtigkeit, der immer krude herrschende Zeitgeist aber hat bis heute seinen Geschmack daran. Wie aber weist man mit wissenschaftlichen Mitteln den Wert von Kunst nach? Und noch ärger: wie weist man Bewusstsein nach? Und am allerärgsten: wie beweist man Gott?
Und so hatten alle drei sich zu verabschieden (am unbemerktesten interessanterweise das zweite). Und so steht man heutigentags in einer Gesellschaft, die wohl allenthalben Unbehagen und Entfremdung fühlt, dessen das Bewusstsein aber ersetzende Oberflächlichkeit zu keiner Wurzel mehr heranreicht. Und so steht man heutigentags auch in der direkten baulichen Abbildung dieser Verhältnisse. Das kann man leicht in den riesigen Ansiedlungsperipherien ab den 1950ern — und das kann man in Innenstädten, die der Zweite Weltkrieg hinweggefegt hat, also auch in Mannheim.
Viel redet man zumindest in Baden über Mannheim, die Bedeutung dieser Großstadt bringt das einfach mit sich. Selten genug aber bringt man dabei Mannheim mit dem Prädikat "schön" in Verbindung. Vielmehr: was hier gewaltig ins Gesicht schlägt ist eine geradezu erstaunliche Hässlichkeit der Verhältnisse, das Sterile und das Langweilige. Das aber ist der Stile der Moderne, der sich hier in aller Klarheit lesen lässt. Es ist ein Stil, der von allem Anfang um rhetorische Beigaben zu seinen Bauwerken bemüht. Denn das spürte man gleichfalls von allem Anfang, dass die oben verkauften "Wahrheiten" zumindest dahingehend zu relativieren, dass die abgebildete Funktionalität keinesfalls automatisch Schönheit erwirkt! Wie denn auch dieser Stil von dem Prädikat "schön" überhaupt nichts wissen will — und wer wollte solches auch eingestehen? Nein, die Funktionalität wird in "zeitgemäßer Ästhetik" überreicht — das muss reichen. Ansehnlichkeit als Imperativ!
Nun wurschtelt der Modernismus aber schon fast hundert Jahre, in Mannheim in den verschiedensten Stilausblühungen auch schon 60 Jahre. Und freilich tritt jede neue Planer-Generation im Brusttone neuer Versprechen auf. Alle 10 Jahre eine neue "Brave New World"; wie es denn im Moment vor allem auf den Glanz des Spektakulären ankommt. Und tatsächlich, man überdeckt von Generation zu Generation verblüffend erfolgreich, dass Ansehnlichkeit mehr sein muss als nur ein Imperativ! Indessen aber stehen die Konzepte der 1950er bis 1990er zur freien Ansicht auf Mannheims Quadratestadtgrundriss, also auch noch säuberlichst aneinandergereiht. Und es verschlägt einem den Atem!
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Das Sterile und Langweilige, ja das Banale kommt auf dem speziellen Stadtgrundriss Mannheims allerbestens zur Geltung. Riesige Gebäudevolumen haben die kleinteilige Blockbebauung oft genug ersetzt. Und obgleich diese hunderte von Quadratmetern Fassadenfläche besitzen, zeigen sie dennoch weniger unterscheidbare Details als das einfachste und kleinste barocke Bürgerhaus des 18. Jahrhunderts! Mit einer handvoll — auch noch unansehnlicher — Details, sich aber endlos wiederholender Details werden riesige Flächen bedacht, als sei die Monotonie kein Schaden. Alleine mathematische Strukturierung zeichnet, und sie zeichnet unter unablässiger Wiederholung!
In diesen Fällen erinnert sich der Autor gerne der Worte Albert Einsteins. Als er gefragt, ob sich alles auf eine wissenschaftliche Weise abbilden ließe, kam er zur Antwort: "Ja, das ist denkbar, aber es hätte doch keinen Sinn. Es wäre eine Abbildung mit unadäquaten Mitteln, so als ob man eine Beethoven-Symphonie als Luftdruckkurve darstellte." [1]. In diesem Sinne auch die Bauten des Modernismus (nicht nur Mannheims): alle Gestalt des Lebens ist restlos getilgt; alleine eine mathematische Abbildung durfte bleiben, eine Abbildung gleich einer Abstraktion historischer Baukunst — und das dann immer noch ins "Unendliche" aufgebläht. Auch die Fassaden der barocken Vorzeigewerke Mannheims, auf die wir gleich näher eingehen werden, wurden im Rhythmus mathematischer Regeln entworfen; auch wenn man das bei mancher Fassadenüppigkeit kaum glauben möchte. Aber hier war die Mathematik was sie im Kunstfalle immer nur sein darf: ein Mittel zum Zweck, zum Zwecke der Rhythmisierung. Ein Mittel, das alleine im Hintergrund, und das bedeutet auch: im Unterbewusstsein des Betrachters, die Fäden ziehen darf. Im Vordergrund wirken die Kunstmotive, die von Baustil zu Baustil sich änderten, die aber immer im Nachstreben des großen Vorbildes der Natur um Harmonie bemüht, eine Harmonie, die denn nach außen Schönheit zeugt.
All dies wurde in der allgemeinen Experimentierfreude der 1920er einfach fortgeworfen. Und hernach bekam man es, weil wissenschaftlich nicht beweisbar (siehe oben), nicht wieder zurück in den Formenkanon. Seither wirkt denn die Mathematik ganz offen im Vordergrund — so streng, dass sie nicht einmal die roheste Monotonie fürchtet. Die Abstraktion des Bauens, auch solches Kuriosum erbrachte uns das 20. Jahrhundert!
Und als ein besonderer Schicksalsschlag traf der Modernismus auf den Quadrategrundriss Mannheims; das wurde schon angedeutet. Auf die Rationalität des Erschließungssystems waren die beiden Kurfürsten, die die Stadt als Capitale nutzten, nicht zu unrecht stolz. Und Goethe verifizierte durch sein "heiter". Bei gelinden Gebäudehöhe — der Kleinteiligkeit der Bebauung — bei Fassaden, die selbst bei größter Zurückhaltung um kunstvolle Details bemüht — und endlich bei herausragenden öffentlichen Bauwerken, unterstützt auch noch von prächtigen Adelspalais, die zahlreiche Blickfänge stellten: da trat das strenge Raster durchaus in den Hintergrund, ja warb um Übersichtlichkeit im Gesamtkunstwerk des Barock. Wiederum also die klare Mathematik "nur" in der Tiefe wirksam, der Kunst hilfreich unter die Arme greifend, welche dann ihrerseits die Strenge dieser Disziplin überspielte. Ja, das gelang; das war denn unserem Goethe ein "heiter" wert.
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