Fürwahr, Gernsbach ist die Perle des Murgtales! Das Tal, ein wunderbares Naturschauspiel, Enge und hohe Talwände suchend, munter glucksend immer der Flusslauf, zunächst spricht's natürlich für sich selbst. Dann aber auch eine Anzahl edler Bauwerke, aufwertend, die natürliche durch des Menschen Tat bereichernd (so jedenfalls bis ins 19. Jahrhundert) — hierunter am schönsten, gleichsam als Regentin des Tales die Altstadt Gernsbachs. Majestätisch gar thront sie im Tal, die Murg, breitgelagert, zu Füssen — ein Spiegel für die schöne Königin.
So finden wir in diesem Städtchen sämtliche Zutaten — sämtlich, das ist Kunststück genug — für das Gelingen eines vorzüglichen, ja das Herz anrührende Prospekt einer Stadt. Der alte Ort, erstmals im 13. Jahrhundert genannt, die Stadt der Grafen von Eberstein, der Markgrafen von Baden(-Baden), wäre er nur größer, er glänzte gar auf gleicher Augenhöhe mit Wertheim, Weinheim, Ladenburg und Gengenbach.
Die Zutaten, nicht nur vorhanden, sind nämlich von bester Machart. Zu aller erst bewundert man natürlich die landschaftliche Einbettung. Zunächst die Murg. Darüber dann die Stadt, welche sich an diesem Standorte des Tales nur bergauf hat entwickeln können — der glücklichste Umstand für eine Stadtgestalt, weil sie sich, nun gestaffelt, als Prospekt in ihrer Gesamtheit zu präsentieren vermag. Eingedenk der ausgezeichneten Bauwerke des Altortes ergeben sich vor allem durch zwei Kirchen und das hohe Rathaus eine Vielzahl effektvollster Perspektiven. Dann, gleichsam als Rahmung, die Wände des Tales, welche hier schon näher zusammengerückt (vom breiten Talausgang betrachtet), bewaldet zumeist, an Höhe gewinnend. Und als i-Tüpfelchen lächelt Schloss Eberstein, gleich einer Märchenburg, nur wenig entfernt, milde auf das Städtchen herab.
Steht man an der Murg, das Städtchen in der Sonne blinzelnd gegenüber, links aufsteigend und bewaldet die Talwand, bekrönt vom Schlosse Eberstein, dann weiter der Blick hinauf ins Murgtal, so findet man einen der schönsten Orte Badens — konstituiert von ergreifender Natur und einem Werk des Menschen, das noch im Einklange, in Harmonie mit der natürlichen Rahmung, ja mit sich selbst.
Nun aber ist auch Gernsbach, gefangen vom 20. Jahrhundert, ausgeufert. Eine Peripherie, Musterstück des Modernismus, gegen den historischen Ort, gegen das ganze Tal protestierend — das Gebaue, ein Affront, trister Alltag.
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Das Bauen in der historischen Stadt, immer eine Belastung für die Bürgerschaft, die Enge der Verhältnisse mit jedem zusätzlichen Gebäude, ja jedem zusätzlichen Geschoss nurmehr steigernd. Die Gemeinschaft, gebildet zum Schutze, aber auch "zusammengeschoben" in den Grenzen der sichernden Stadtmauern. Das Zusammenleben, es konnte nur durch Rücksichtnahmen gelingen. Eine der Rücksichtnahmen lieferte die Baukunst — Fassaden, kunstvoll, den Stolz des Bürgers befördernd, und dem Auge des Vorübergehenden, des Betrachtenden Reize bietend, orientiert am Vorbilde der Natur nach Schönheit und Harmonie, nach Vielfalt im Kleinen trachtend. Ein Trost. Die Enge überspielt, aufgeweitet durch das Mittel der Kunst.
Und die endlosen Peripherien, Speckgürtel des 20. Jahrhunderts? Welch' Glück, welch' Errungenschaft dem Lande solches Wachstum! Die Weitläufigkeit aber, die endlose Reihung der Bauten — auch sie treten dem Bewohner in den Weg. Nicht in historischer Dichte, welche immer mit Ausgleich durch unmittelbare Natur (vor den Stadtmauern) — dafür aber durch die Weitläufigkeit den Menschen lange der freien Natur entziehend. So sind die riesigen Siedlungsflächen wohl entlastet vom Nachteile drückender Dichte, dafür aber im Makel von der natürlichen Umgebung abzuschneiden. Wie nun die historische Stadt ihren Mangel durch das Kunstvolle zu mildern wusste, ja aus der Not eine Tugend schuf, dem Bürger gar eine Identität — keinen Deut anders hätte auch der urbanistische Brei unserer Tage gelingen können, auch hier hätte eine Baukunst notwendig das unattraktive Endlose aufgewertet, Charakter eingestiftet.
Eines aber gelang dem Gernsbach des 20. Jahrhunderts, ein weiterer großer Vorzug der Stadt. Nicht nur wurde der Altort liebevoll wie aufwendig saniert, auch blieb des Modernismus Spielwiese einzig die Peripherie, ward ihm das historische Zentrum weitgehend verschlossen. Durch das alte Gernsbach zu laufen bedeutet durch eine geschlossene historische Umgebung zu flanieren, Kurzweiligkeit.
Die Vergangenheit der Stadt sah schlimme Tage, das Drangsal des 30jährigen Krieges, vor allem aber die totale Zerstörung im Pfälzischen Erbfolgekrieg (1691). Die anschließend wieder aufgebaute Stadt litt Ende des 18. Jahrhunderts nochmals einen verheerenden Brand, der nahezu die Hälfte der Gebäude ausradierte.
Darüber aber, dem furchtbaren Schicksal gleichsam wehrend, nahm das Stadtbild einen heterogenen, seinen lebendigen Lauf. Eine Zusammensetzung aus Steinbauten der Gotik und Renaissance, die dem Stadtbrand trotzten, einer größeren Anzahl Fachwerkhäuser, welche errichtet im 18. und 19. Jahrhundert, schließlich etwas Barock, zurückhaltende bis auffallende Bauten des Klassizismus, ein wenig Historismus.
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Hat man die Murgtalbrücke überschritten und kann sich noch verkneifen gleich ins Herz der Altstadt vorzudringen, so findet man links abbiegend außerhalb der ehemaligen Befestigung, welche schon historisch von mehreren Vorstadtbereichen umgeben, die SANKT JAKOBSKIRCHE. Ein kleiner aber vortrefflicher Bau vor allem der Gotik, erbaut aus rotem Sandstein zwischen 1467-1471 (über Vorgängerbau). Der Chor mit typischen Strebepfeilern, noch schöner aber die Eingangsfassade mit schmuckreichem Portal, zwei großen Maßwerkfenstern, einem hohen Giebel, endlich einem formenverspielten Dachreiter aus Tagen barocker Ergänzung. Die Vorderseite gehört zum schönsten badischer Landgotik.
Des weiteren erzeigen sich in diesem Vorstadtbereich, direkt an der Murg, einige liebreizende Fachwerkbauten, darunter der alte AMTSHOF (errichtet 1556, umgebaut 1700) und die BOGEN- oder SCHLOSSMÜHLE (erbaut ab 1662).
Kann man sich nach dem Rückweg ein zweites Mal den eigentlichen Kern versagen, rückt statt dessen bergauf entlang der alten Befestigungslinie, so stößt man alsbald auf ein bedeutendes Überbleibsel der Verteidigung, einen gut erhaltenen (sorgfältig restaurierten) STADTMAUERZUG, welcher dem nächsten herausragenden Bauwerk besten Anlass gibt. Über der Stadtmauer, dieselbe als Außenwand nutzend, erhebt sich die ehemalige ZEHNTSCHEUER, die bei einer Grundsubstanz zurückreichend ins 16. Jahrhundert ab 1764 neu errichtet wurde. Ein Gebäu beeindruckend an Größe, monumental der Stadtmauer aufsitzend, gefällig durch die Fachwerkfassaden.
Von hier aus im übrigen gewahrt man schon lange ein zweites Werk sakraler Gotik: die LIEBFRAUENKIRCHE, die als wirkungsvollstes Gebäude am oberen Ende der Stadt, also den höchsten Punkt besetzend die Silhouette Gernsbachs gar glücklich vollendet. Das große Gotteshaus wiederum landgotischer Prägung, weiß verputzt, wirkt wie aus einem Guss. Ein Eindruck, der täuscht. Erst ab 1833 nämlich wurde aus der hier seit 1388 befindlichen gotischen Kapelle das große heute vor Augen stehende Gotteshaus. Geschickt nutzte man auch einen alten Turm der nunmehr bedeutungslosen Stadtbefestigung, welchem in nächster Nähe der Kapelle nun als Campanile der neuen Pfeilerbasilika statt Niederlegung eine zweite Karriere eröffnet ward. Die Kirche ist ein ruhiger, geschmackvoller Bau — der Turm ragt auf der Rückseite, das Langhaus dreischiffig, zahlreiche Strebepfeiler, die Detailsprache von zurückhaltender Stattlichkeit, worunter am attraktivsten die Maßwerkfenster.
In unmittelbarer Nähe ein zweiter Turm, der hohe und schlanke STORCHENTURM, der bedeutendste Überrest der alten Befestigung, erbaut 1449. Auf langem Unterbau, massiv aus Bruchstein, "balanciert" ein Geschoss aus Fachwerk, welches feingliedrig in Kontrast zum rohen Mauerwerk, gedeckt endlich durch ein hohes Walmdach. Ergänzend treten Reste der Stadtmauer hinzu. Ein reiner Funktionsbau, der einmal mehr durch wenige formale Regeln, die handwerkliche Ausführung, dennoch von Anmut.
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Von diesem nicht nur topographischen Höhepunkt der Altstadt besitzt man nun beste Gelegenheit die zu Füssen liegenden Straßen und Gassen, die Plätze zu erobern.
Allenthalben trifft man auf die lebendige, schon vorgestellte Mischung der Baustile. Habe man dabei aber immer die auszehrenden Zerstörungen vor Augen, die Bescheidenheit der Gernsbacher Verhältnisse, prunkvolle Bauten also nur in Ausnahmefällen. Alles lebt von der Kleinteiligkeit der zu bebauenden Parzellen, von der Abwechslung der Stilmerkmale.
Der schönste Platz Gernsbachs ist der durchaus geräumige MARKTPLATZ, unregelmäßig an Form, im Grunde nur aufgeweitete Straße, möbliert mit Renaissance-Brunnen und umstanden zumeist von zwei- bis dreigeschossigen Gebäuden — ein Platz noch von mittelalterlicher Ausstrahlung, von entsprechend behaglicher Raumwirkung.
Aus den ihn säumenden Bauwerken, welche eingedenk des prominenten Ortes mehrfach zu überdurchschnittlicher Schönheit aufstiegen, hebt man gemeinhin zwei Gebäude besonders hervor. Gebäude übrigens, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Zunächst das sogenannte KORNHAUS, nachgewiesen bis sage und schreibe 1417, aber auch ein Raub der Flammen, zuletzt des Brandes von 1798. Dieses Inferno nun rief eine der größten badischen Berühmtheiten auf den Plan: Friedrich Weinbrenner. Kurz zuvor aus Rom zurückgekehrt, zu diesem Zeitpunkt noch als stellvertretender Oberbaudirektor "nur" zweiter Mann in der Bauwesen-Hierarchie der Markgrafschaft, oblagen ihm die Planungen des Wiederaufbaus. Wenngleich sie dem Markgrafen zu idealistisch, wurden dennoch ihre Grundzüge zumindest verwirklicht. Des weiteren konnte Weinbrenner zwei Gebäude ausführen: ein Stadthaus für eine Adelsfamilie in nächster Nähe der Liebfrauenkirche, ein zurückhaltender Bau. Ganz im Gegensatz das zweite, das einzig überlebende Gebäude aus Weinbrenners Frühzeit, ihr nachkommend von urwüchsiger Ausstrahlung, eben unser Kornhaus am Marktplatz. Eines der merkwürdigsten Bauwerke Badens, kaum harmonisch, nur unter bestimmtem Gesichtspunkte schön, vor allem aber aufregend kraftvoll. Auf der Eingangsseite wuchten vier unbotmäßige Quadratpfeiler in die Höhe, als gelte es atlasgleich ganze Welten zu hieven — was aber geschieht statt dessen? Das leichteste Fachwerk, einstöckig, schwebt über den dorischen Kapitellen! Eigentlich ein unmöglicher Gegensatz, weil aber so tatsächlich nirgendwo gewagt, der erfrischendste Anblick. Irritierende Originalität. Und über der aufrüttelnden Monumentalität vergisst man beinahe die geringe Größe des Gebäudes.
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Das zweite herausragende Gebäude des Marktplatzes, ein in Stein gemeißelter Feinsinn, ein Werk gänzlich entgegengesetzter Natur. Das sogenannte ALTE RATHAUS, dreistöckig mit hohem Giebel, ganz aus rotem Sandstein. Ein Kunststück der Renaissance — und was für eines, ein Gebäu für das man sich wegwerfen will! Hier tritt die nächste badische Baumeistergröße auf den Plan, Johannes Schoch.
Wie Weinbrenner ein badisches Eigengewächs (geboren in Königsbach, zwischen Karlsruhe und Pforzheim) und als kurpfälzischer Hofarchitekt in der Hauptstadt Heidelberg gleichfalls mit Bedeutung weit über die engen Landesgrenzen hinaus; seines Zeichens unter die wichtigsten Vertreter der Renaissance Süddeutschlands gezählt. Auch das Alte Rathaus, 1617/18 ursprünglich als Wohnbau eines vermögenden Holzflößers konzipiert, gehört zu seinen Meisterwerken.
Neben dem Hotel Ritter in Heidelberg (möglicherweise auch ein Werk von Schoch) das wertvollste Stadthaus reinen Renaissance-Stiles in Baden, und wie dieses scheut es in ganz Deutschland keinen Vergleich. Gegenüber dem Hotel Ritter besitzt es sogar den Vorzug gleich zweier Schaufassaden, welche über eine Gebäudeecke geführt und kunstvoll zusammengebunden durch einen polygonalen Erker. Daneben erfreut uns Ornamentreichtum, zumeist in Verbindung mit den zahlreichen Öffnungen; auch der Giebel, wie die beiden Fassaden durch Gesimse horizontalisiert, brilliert, sich treppenartig abstufend, unter geschicktem Schmuck. Der Eingang liegt auf der anderen Seite, dem Marktplatze zugewandt und im Stile des Gebäudes natürlich Pracht nicht missen lassend: zwei toskanische Säulen auf hohen Postamenten und ein überaus fein gearbeitetes Wappen fallen auf. Diese Seite, die kontrastierend gegen ein Fachwerkhaus stößt, gefällt außerdem durch eine große, formenreiche Dachgaube.
Ich erinnere mich noch genau, wie ich, vom oberen Teil der Stadt kommend, das Alte Rathaus (es war die Giebelseite) zum ersten Mal sah. Wahrlich, ich dachte mich trifft ein Schlag. Das Gebäude ist von solcher Anmut, dass auch die große zuvor gewahrte Schönheit nicht ausreichende Vorbereitung. Ein solches Gebäu würde man wohl in einer altehrwürdigen Metropole europäischen Ranges vermuten, nimmer aber in einer kleinen Stadt im Murgtal. Und wenn, alleine durch die Topographie bedingt, die Liebfrauenkirche die Krone, so ist das Alte Rathaus das Zepter, ein ungekanntes Schmuckstück in den Händen der Murgtal-Königin.
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Quellen 1) die Bauwerke selbst - Stilmerkmale; Stadt und Landschaft
2) Dr. Emil Lacroix und Dr. Heinrich Niester "Kunstwanderungen in Baden", Chr. Belser Verlag Stuttgart, Ausgabe 1959
3) Website www.gernsbach.de
4) örtliche Informationstafeln
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