Baukunst in Baden
  Weinheim
 


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Nunmehr hatte der Autor die "badischen Länder" seit drei Jahren bereist und besaß dennoch eine weiterhin große Anzahl möglicher Ziele. Wenn ihm solche Wahl auch nur selten zur sprichwörtlichen Qual, nahm er denn doch gerne den Ratschlag eines alten Freundes an, welcher nämlich Weinheim nicht wenig lobte, zuvörderst ob dessen "reizvollem Marktplatz", welcher also besonders ans Herz gelegt.
     Nur wenige Tage später ward Weinheim bereits gewonnen. Die Stadt liegt unweit HEIDELBERG an der sogenannten BERGSTRASSE, was ihr also Nähe zu Hessen und den schönen ODENWALD  einträgt. An der Bergstraße gewahrt man eine der spannungsvollsten Partien des an Ausdehnung großen Höhenzuges, namentlich seinen abrupten Übergang in die Rheinebene: eine lange und durch das unvermittelte Aufragen durchaus beeindruckende Gipfelkette. Das historische Weinheim nahm sich, ein wenig zurückgezogen, eines der in die Rheinebene fließenden Odenwaldtäler zum Standort, was den landschaftlichen Reiz der Stadt freilich sehr befördern musste. Weinheim nämlich wird nun zum einen von Talwänden eingefasst, zum anderen aber öffnet es sich dennoch zur Rheinebene.
     Die Topographie übrigens hält vor der Stadt selbst keineswegs inne, so dass Weinheims Plätze, Straßen und Gassen sich zumeist in die Höhe winden, was indessen vor allem dem bereits eingeführten Marktplatz eine außerordentliche Gestalt gewinnt; dazu aber erst später mehr. Weinheims erstes Lob gilt also der landschaftlichen Einbettung, dem Effekt der umgebenden Natur.
     Ich näherte mich der Altstadt ungefähr aus westlicher Richtung, was mir sogleich eine erste, nicht geringe Überraschung eintrug. Hier nämlich steht man vor einem der merkwürdigsten Schlösser Badens — ein schönes allzumal, auch ein durchaus langes, vor allem aber ein lustig heterogenes, am treffendsten wohl als ein Konglomerat von einem SCHLOSS zu erfahren. Das lange Gebäu entstammt drei klar voneinander separierten Baustufen, drei Stil-Epochen, die von einem Gebäude-Ende zum anderen trefflich ablesbar.
     Beginnen wir, immer noch außerhalb der historischen Stadt blickend, auf der linken Seite. Hier nämlich die auffälligste Partie, ein gewaltiger Turm aus rotem Sandstein mit hohem Schieferdach und vier Wichhäusern an den Ecken der Turmspitze. Der Klotz wie der gesamte NORDFLÜGEL zeigt Neo-Renaissance des Jahres 1868. Erbauer der seinerzeitige Besitzer Freiherr Christian von Berckheim. 

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Die mittlere Position der drei Abschnitte behauptet die älteste Erbauungszeit: die echte Renaissance. Es ist das alte KURPFÄLZISCHE SCHLOSS, entstanden ab 1537, winkelig, mit Vor- und Rücksprüngen, leicht zu erkennen am weißen Verputz. Die Innenseite strotzt noch vor Renaissance-Details, die Außenseite dagegen und die Dächer der Treppentürme und Erker zeigen barocke Ein- und Umbauten. Die mittlere Partie hält außerdem vermittels gotischem Spitzbogen (Originalsubstanz) den schönsten Eingang in die Stadt bereit. Seine größte Zeit hatte das alte Schloss nach dem Pfälzischen Erbfolgekrieg (ab 1689), der die kurpfälzische Hauptstadt Heidelberg samt Residenz und auch das benachbarte Mannheim, das zuvor als gewaltige Zitadelle gleichfalls von großer Bedeutung, in jämmerlich anzuschauende Trümmermeere versinken ließ. Die Kurpfalz also lag verwüstet — Weinheim dagegen war der Zerstörung durch Leistung bedeutender Kontributionszahlungen (eine Art Lösegeld zur Verschonung der Stadt) knapp und glücklich genug entgangen. So nahm also der Kurfürst ab 1689 für einige Zeit im kurpfälzischen Schloss Residenz, wie ja auch die Heidelberger Universität in Weinheim provisorischen Unterschlupf fand. In jenen Jahren sah man in Weinheim die wichtigste kurpfälzische Stadt.
     Der letzte, zugleich der längste Abschnitt präsentiert die Zeit der lieblichen Künste, den Barock-Stil, welcher recht unvermittelt einen niedrigeren Flügel an das kurpfälzische Schloss schob — jener SÜDFLÜGEL, er ward ausgeführt durch die Adelsfamilie Ulner von Dieburg. Die gefälligere der beiden Längsseiten die äußere, wohl mit nur zurückhaltender Schmuckanbringung, dafür aber von reizvoller horizontaler Proportion, welche endlich im Kontrast zur Vertikalen des Turmes im Nordflügel. Die Fassadenmitte erreicht durch Dreiecksgiebel und Balkon (auf quadratischen Pfeilern) die für die symmetrische barocke Konzeption notwendige Betonung. Schließlich weiß der Dachfries, durchlöchert von runden Fenstern die waagrechte Wirkrichtung geschickt zu befördern. Das Barockschloss, wie natürlich die Renaissance-Partie erstand noch in kurpfälzischen Tagen, der Nordflügel samt wuchtigem Turm dagegen entstammt bereits den badischen, die für Weinheim wie die gesamte rechtsrheinische Kurpfalz ab 1803 ihren Ausgang nahmen. Gleichfalls aus badischer Zeit der ausgedehnte, beliebte wie schöne SCHLOSSPARK, vom barocken Flügel ausgehend, angelegt ab 1860 als Exotenwald wiederum vom Freiherrn Christian von Berckheim.
     Hat man das Schlossgeflecht durch den Spitzbogen passiert fallen sogleich nächste TORKONSTRUKTIONEN auf. Zur Linken Neo-Renaissance aus rotem Sandstein und zur Rechten ein barocker Rundbogen mit Pilastern und reichlich Ornament. Beide gehören noch zum Schloss, dessen nun also zu betrachtende Rückseite  gleichfalls von nicht geringem Reiz, was zumeist aber gültig für das alte verwinkelte, kurpfälzische Schloss.

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Auch gewahrt man alsbald die geradezu steil abfallende Topographie Weinheims, welche der Altstadt, die Gebäude beständig höher, oder von hier aus eben niedriger staffelnd, das vielleicht spannungsvollste Moment eingibt. Unsere Straße also nimmt ihren (kurzen) Weg nach unten, Ziel das Herz der Stadt, der Marktplatz. Die Straße und Platz säumenden Gebäude sind fast durchgehend von historischer Substanz, herrührend aus dem 16. bis 19. Jahrhundert. Hat man eingedenk des ungewöhnlichen Schlosses Weinheim natürlich ein zweites großes Lob zu zollen, so für die bestens erhaltene (und herausgeputzte) Gebäudesubstanz nurmehr das nächste.
     Was also für jene gerade durchschrittene Straße und den sogleich zu gewinnenden Marktplatz gilt, darf gleich der gesamte Altstadtkörper in Anspruch nehmen: wertvolle historische Gebäude. Mag auch das 19. Jahrhundert seine Spuren hinterlassen haben, was vor allem die links sich auftürmende Kirche romantischen Stiles leistet, so dominiert dennoch deutlich der Fachwerk- und der Steinbau des 16. und 17. Jahrhunderts, also der Renaissance und dem Barock entstammend. Weil aber der Stadtgrundriss nicht nur von seiner geneigten Topographie, nicht weniger nämlich von seiner mittelalterlichen Straßen- und Gassen-Struktur profitiert, welche die sterile Gerade verschmähend allenthalben Kurve und Rundung sucht, so überwiegt beim Flanieren durch Weinheim vor allem der anheimelnde mittelalterliche Eindruck.
     Vom munteren Stilwechsel gibt schon die noch beschrittene Straße (wie beinahe die gesamte Altstadt Fußgängerzone) den besten Begriff. Die beiden Schlosstore wurden erwähnt, gleichfalls die Sankt Laurentiuskirche (hier mit Längsseite, ihre Orientierung gilt nämlich dem Marktplatze), rechts zunächst ein Barockbau (noch zum Rathaus gehörend, welches das Schloss heutigentags nutzt), dann eines der in Nordbaden durch die Zerstörung des Pfälzischen Erbfolgekrieges seltenen Exemplare der Stein-Renaissance, einfach wohl, aber mit typischen Fenstergewänden und einem lustigen Eckerker. Nun einige Fachwerkhäuser, dann wieder Putzbauten. Letztere aber praktisch ohne Anspruch auf Teilnahme, alle weiteren Blicke nämlich werden endgültig vom MARKTPLATZE gebannt.
     Ein wunderbarer Stadtraum, zwar von durchaus wenig phantasievoller rechteckiger Grundform, welche aber vom Schauspiel der weiter abfallenden Topographie im Grunde völlig überspielt. Letztere, wie die wertvollen Platzwände, worunter auch höchste Baukunst, kürt den Weinheimer Marktplatz zu einem der schönsten Platzgestalten Badens. Er ja der Hauptgrund für meinen Besuch und in der Tat, ein kurzer Blick nur genügte um meinem alten Freund beizupflichten.

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Dass hierbei aber keineswegs von einem Geheimtipp zu sprechen, bewies billig die bei mildem Spätsommerwetter auf dem Platze versammelte Menge, worunter Einheimische, aber auch viele Touristen, welche die Stadt völlig zu recht besuchen. Vom Marktplatze aus, der nunmehr der vierte besondere Vorzug der Stadt, kann man nämlich sogleich den fünften Ruhm der Stadt erspähen: Weinheim liegt zu Füßen gleich zweier Burgen! Mag es auch nicht jene innige Verbindung sein zwischen Stadt und Burg wie beispiels-weise in Heidelberg oder Wertheim, wo dieselben gleichsam zu einem einzigen Organismus verschmolzen, schlicht weil die beiden Burgen höher und weiter entfernt von der Altstadt, so liefern die Burgen freilich neben der trotzdem erzielten Aufwertung der Stadterlebnisses, Anlass genug zur Besichtigung. Und was noch von hier unten ihren großen Reiz ausmacht, ist die beständige Zusammenschau mit den Straßen und Plätzen der Stadt.
     Doch zurück zum Marktplatz. Seinen dominierenden Blickfang stellt die mehrfach schon erwähnte SANKT-LAURENTIUS-KIRCHE, eine Basilika aus rotem und gelbem Sandstein. Ihr Turm wurde im romantischen Stil der Mitte des 19. Jahrhunderts geplant und ausgeführt von einem der berühmtesten Söhne der Stadt, dem badischen Oberbaudirektor Heinrich Hübsch. Er wurde in Weinheim geboren, verlebte hier Kindheit und Jugend. Später spielte dann Heidelberg, wo er gleichfalls einige Jahre zubrachte eine entscheidende Rolle. Hier nämlich — so zumindest darf man spekulieren — wurde die Grundlage für seine spätere romantische Baugesinnung gelegt. Vom Klassizismus seines Lehrers Weinbrenner jedenfalls, dessen Schule in Karlsruhe er schließlich besuchte, hielt Hübsch je länger desto weniger. Den körperhaften, stets rauen und beinahe schmucklosen Bauten des Weinbrenner-Stiles, setzte er einen wieder schmuckreichen, den Baukörper verschleiernden Umgang, den von Hübsch mitinitiierten Romantischen Stil entgegen. Hierfür orientierte er sich zwar keineswegs am Heidelberger Barock, wohl aber wandelte er in dessen Überspielung des Baukörpers durch Ornamentik. Hübsch, als talentiertester Schüler Weinbrenners, rückte nach dessen Tod 1826 als Nachfolger auf den Stuhl des badischen Oberbaudirektors. Nun erst konnte er seine Stilvorstellungen wirklich implementieren, gespeist vor allem aus frühchristlicher Renaissance und Romanik.
     Wie sein Lehrmeister stieg auch Hübsch zu einem der bedeutendsten Baumeister Deutschlands auf. Für Hübsch, der sich leidenschaftlich zur christlichen Lehre bekannte, namentlich zur katholischen, zu welcher er später auch konvertierte, sah seine höchste Berufung im Kirchenbau. Und er hatte Glück, denn in seine Zeit, die von wirtschaftlichem Aufschwung geprägt, fiel die Erbauung gleich zahlreicher Kirchen. Heinrich Hübsch hat bis heute als der badische Kirchenerbauer schlechthin zu gelten. Neben der großen Anzahl errichteter Gotteshäuser kürt ihn die hohe gestalterische Qualität seiner Stilvorstellungen.

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Male man sich seine Freude aus, dass ihm die Aufgabe des Neubaus des Turmes der katholischen Stadtkirche seines Heimatortes zukam. Interessanter aber, dass sich auch der Neubau des Langhauses von 1911-13 (50 Jahre nach dem Tode von Hübsch) nochmals an seiner Formensprache orientierte. Neben der schönen basilikalen Grundform (dreischiffig), welche ja von Hübsch in Baden wiedereingeführt, gefällt die durch Rechteck-Säulen definierte Vorhalle mit zweiläufiger Freitreppe. Majestätisch thront diese Eingangsfassade an der oberen, der westlichen Schmalseite des Marktplatzes. So erscheint durchaus die gesamte Kirche im Geiste von Heinrich Hübsch; zweifellos auch zu seinen Ehren, denn die Formensprache des Kirchenschiffs war zu jener Zeit ganz und gar untypisch.
     Die Längsseiten des Marktplatzes und auch die gegenüberliegende Schmalseite sind beinahe durchgängig von schmalen Bürgerhäusern eingenommen, was Abwechslung und damit Lebendigkeit eingibt. Zumeist findet man Putzbauten, aufgelockert aber durch Fachwerk-Pendants. Die Längsseiten allerdings sind zu dieser Jahreszeit durch eine Anzahl Bäume verdeckt, welche freilich neben ihrer Schönheit umso mehr die Lebendigkeit des Ganzen fördern — auch sie ein wichtiger Bestandteil des Marktplatz-Ereignisses.
     Eines weiteren Markplatz-Gebäudes muss man im einzelnen gedenken, befindlich am unteren Ende des Platzes: das ALTE KAUFHAUS, erbaut 1557 im schönsten Renaissance-Stil. Das später zum Rathaus umfunktionierte Gebäude, darf als eines der wertvollsten dieses Stiles in ganz Baden gelten. Der verputze Giebelbau zeigt eine feine Detailsprache, welche am interessantesten in Gestalt des langen Fensterbandes im Obergeschoss. Dieses Mittel wurde in den Tagen der Renaissance gerne eingesetzt um die preferierte Wirkrichtung des Stiles, die Horizontale zu unterstreichen. Jene Horizontale galt als Absage an die vertikale Orientierung des Vorgängerstiles, der Gotik. Die Idee des Fensterbandes wurde dabei keineswegs beliebig, vielmehr gezielt eingesetzt. Im Falle des Weinheimer Kauf- oder Rathauses betont sie sinnfälliger Weise das Hauptgeschoss. Lustigerweise schrieben sich Jahrhunderte später die Architekten des Modernismus die Entwicklung des horizontalen Fensterbandes auf die Fahnen — ihnen immerhin blieb es vorbehalten das Stilmittel tatsächlich inflationär einzusetzen, reflexartig (wenig hinterfragt) vorgetragen bis auf den heutigen Tag.
     Vom Marktplatze aus führt eine Treppe in das ehemalige GERBERVIERTEL. Auch hier nur Staunen. Man betritt eine neue Welt — ist man noch in Weinheim? Waren kurz zuvor noch Fachwerkbauten und vor allem barocke Steinbauten auf`s munterste durchmischt, strotzend vor Lebendigkeit, so hier ganz anders: das reinste Fachwerk-Ensemble, ein neuer eigener Charme, durchschlängelt auch noch von einem alten Bachlauf. Man findet kaum ein verputztes Gebäude und, was noch hilfreicher, nur wenige modernistische Eindringlinge — eines der schönsten homogenen Quartiere Badens und nunmehr der sechste Ruhm Weinheims. Auch die Erschließungsstruktur passt sich der Kleinteiligkeit der Bebbauung an. Dominierten zuvor noch Straßen, gerade oder mit größerem Radius geschwungen, zeigt das Gerberviertel vor allem Gassen, winkelig und unablässig die Kurve fordernd. 

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Die Gebäude sind zumeist zwei- oder dreigeschossig mit massiven Erdgeschossen. Letztere zeigen immer wieder Renaissance-Details; das Fachwerk, wiewohl nirgends ärmlich, neigt nicht zu reicher Schmuckausbildung — es verdankt sich durchgängig fränkischer Machart, zeigt aber beständig die Köpfe der Deckenbalken in den Fassaden, einen letzten alemannischen Einschlag also.
     Vom geneigten Stadtgelände ging mehrfach schon die Rede, sie hat auch für das Verhältnis Gerberviertel zu oberer Stadtpartie Bedeutung, namentlich in der Gestalt eines veritablen Bruches. Die obere Bebauung, worunter vor allem die Rückseiten der westliche Marktplatzgebäude türmen sich über Reste der hier erhaltenen Stadtmauer in schwindelerregende Höhen und darunter ducken sich die kleinen Fachwerkhäuser — so recht eine Szene á la Piranesi.
     Treten wir nun den ob seiner Steilheit durchaus fordernden Weg zur Burg Windeck an. Soll sie vor allem zur Anschauung kommen, die zweite Burg nämlich, die WACHENBURG, erbaut erst 1907 (durch burschenschaftliche Gelder) besitzt wohl noch gewisse Reize, vor allem aber zeigt sie jene architektonische Ratlosigkeit des beginnenden 20. Jahrhunderts, die wie kaum ein anderer Faktor das Aufkommen der modernistischen Baugesinnung begünstigte.
     Halten wir's also mit wirklicher Baukunst. Die BURG WINDECK, hoch über Weinheim, wurde zu dessen Schutz ab 1130 errichtet. Die noch nicht zur Stadt erhobene Siedlung wie der größte Teil der Gemarkung gehörte damals der einflussreichen nur rund 20 Kilometer entfernten Abtei Lorsch. Dementsprechend wurde die Siedlung namens "Winenheim" (fränkisch klingend) das erste Mal im berühmten Lorscher Codex urkundlich festgehalten. Jener Lorscher Codex übrigens, er kann sich wie nur wenige süddeutsche Dokumente rühmen zahlreiche Orte erstmals urkundlich zu belegen, was demselben seine nicht geringe Bedeutung erwirkt. Unser Winenheim nun erwähnt er bereits im Jahre 755.
     Man schrieb das Jahr 1232, die Burg Windeck stand längst schon, als Kaiser Friedrich II. und Papst Gregor IX. das Kloster Lorsch auflösten —  und das mittlerweile in Alt- und Neustadt aufgeteilte Weinheim gelangte bis 1308 samt der Burg ganz in die Hände der Pfalzgrafen bei Rhein, zum Territorium also der späteren Kurpfalz. Dort verblieben Stadt und Burg bis zum Übergang an Baden.

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Vorher aber litt die Burg düsteres Schicksal. 1674 nämlich, sozusagen als Vorbote des 15 Jahre später die Kurpfalz verwüstenden Pfälzischen Erbfolgekrieges, wurde die Burg von französischen Truppen ruiniert (die Stadt dagegen ward geschont). Während aber das Anzünden mittelalterlicher Fachwerkstädte leichtes Spiel, fand man das Ruinieren der Steingebirge von Burgen immer sehr mühselig. Entsprechend beschränkten sich des Sonnenkönigs Generäle bei den zahlreichen in Baden zerstörten Burgen zumeist auf das Niederbrennen von Palas und Nebengebäuden und nur teilweises Schleifen der meterdicken Mauern. So auch Burg Windeck, stark ruinös zwar, aber ohne weiteres noch eine Sehenswürdigkeit. Die hohe SCHILDMAUER und beachtliche Reste der niedrigeren RINGMAUER aus hiesigem Buntsandstein führen noch ein echtes Bollwerk vor Augen. Außerdem blieben die Außenmauern zweier PALASBAUTEN (mit KAPELLE) teilweise erhalten und als Krönung der Anlage der überaus markante BERGFRIED.
     Dieser nämlich schraubt sich durch eine annähernde Kegelform dynamisch in die Höhe. Verbunden mit dem Wehrgang, welcher auf einem Konsolenkranz auch um den Bergfried führte macht der Turm eine vortreffliche Figur. Was ihn vollendet ist freilich seine Zugänglichkeit: durch eine wie in ein Steinmassiv gehauene Wendeltreppe windet man sich nach oben. Hier winkt als Lohn die glücklichste Rundum-Aussicht, Blicke in die Weite der Rheinebene, in den Odenwald hinein, auch nach Weinheim hinunter, dessen Grundfigur gut erkennbar.
     Durch ihre dichtere Bebauung separiert sich die Altstadt glücklich von den Erweiterungen vor allem des 20. Jahrhunderts, jene Speckgürtel, welche einem auf dem Wege zum köstlichen Fleisch der Altstadt zur allzu billig den Appetit verderben. Die Bedeutung Weinheims blieb immer bestehen, ergo darf es nicht wunder nehmen, dass auch diese Stadt über die Maßen ausuferte, der alte historische Kern in der Gesamtschau ob seiner relativen Kleinheit fast verschwindet.

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Das 20. Jahrhundert, welches auf verschiedene Weise den neuen Menschen schaffen wollte, dabei wohl auch erfolgreicher zu Werke ging als man gemeinhin wahrhaben möchte, hinterließ unterstreichend solche Spuren. Bedenke man auch bei diesem Ausblick wie im 19. Jahrhundert noch alles geordnet und harmonisch (was freilich keine Frage der Größe!). Gewiss, auch hier sei eingeräumt, dass die riesigen Wohn- und Industriesiedlungen, die sich ab 1950 in atemberaubender Geschwindigkeit um Alt-Weinheim legten, zweifellos funktional waren, notwenig allzumal (und das Prosperieren selbstverständlich ein Glücksfall). Soll aber die Gegenseite auch sehen, dass der Anblick, welcher ästhetische Grundsätze offen und ohne Anstoß zu erregen verwarf, von einem Charakter des Unbehagens — jenem Unbehagen, das in unserer Kultur allgegenwärtig. Neue Rezepte müssen her und werden tatsächlich Tag für Tag präsentiert, alleine samt und sonders  nehmen sie sich genau jenes Fundament auf welchem auch das Gegenwärtige zu unserem Unbehagen aufruht. Vielleicht reichen wir uns darüber also die Hand, wenn wir beide das stets Zeitgemäße jener Entwicklung herauskehren. Und dann lasse man den Autoren, welcher darin tatsächlich das am Tage liegende Werk eines neuen Menschen sieht, wieder einen "Narren" sein.
     Burg Windeck hat neben dem noch wehrhaften Charakter einen weiteren Vorzug, den Erhalt einer größeren Anzahl architektonischer Details. Schön zieht sich der Rundbogenfries noch fast um die gesamte Ringmauer und schön zeigen die Wohnbauten noch gotische und Renaissance-Öffnungsrahmungen. Am gefälligsten aber ein kleiner Erker auf Konsolen und mit spitzem Giebel auf der Ostseite. Es ist jenes Zusammentreffen zuvörderst aus noch trutzigem Aussehen und überlebender Details, das eine Burgruine so recht zur Sehenswürdigkeit kürt.
     Der Rückweg, angenehm Gefälle gegen Steigung eintauschend. Dann, wieder in der Stadt, zuerst das Fachwerk-Idyll des Gerberviertel; nunmehr, von neuem bergauf, das lebendige Karree des Markplatzes mit seiner majestätischen Sankt Laurentiuskirche, schließlich das stilgemixte lange Schloss, durchschritten der dank Kindermund quietschfidele Schlosspark. Hier betrachte ich "mein" letztes Bauwerk, welches ich erst von Burg Windeck aus gewahrte: der BLAUE TURM. Neben zwei weiteren TÜRMEN, welche gleichfalls ansehnlich, ein wertvoller Überrest der alten Verteidigung. STADTMAUERRESTE begleiten ihn und geben einen guten Begriff der mittelalterlichen Befestigung; lustig wurde dem bauchigen Rundturm ein Zeltdach aufgesetzt. Letzteres trägt heute rote Ziegel, davor aber bläulich schimmernden Schiefer, woher also der Name. Insgesamt also besitzt Weinheim noch drei Stadtmauertürme, wiederum und abschließend eine Besonderheit der Stadt.
     Befestigungen samt Toren und Türmen wurden überall in Baden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehr oder weniger gründlich "entsorgt" (so dachte man tatsächlich!). Die meisten Städte wohl ließen meist aus Vernachlässigung den einen oder anderen Überrest — gleich drei alte Wehrtürme aber findet man nur sehr selten. Mag diese letzte Besonderheit der Stadt sich gegenüber den vorherigen auch zurücknehmen, so spenden wir ihr dennoch, die Zahl legt es ohnehin nahe, das entsprechende, namentlich das siebente Lob. In Weinheim also, sehen wir eine der schönsten Städte Badens.

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Quellen
1) die Bauwerke selbst - Stilmerkmale und Wirkungen; Stadt und Landschaft
2) Dr. Emil Lacroix und Dr. Heinrich Niester  "Kunstwanderungen in Baden", Chr. Belser Verlag Stuttgart, Ausgabe 1959
3) Website 
www.weinheim.de
4) örtliche Informationstafeln
5) Kupferstich und Stadtbeschreibung Matthäus Merians aus "Topographia Palatinatus Rheni" (siehe oben)

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